26.01.2021
Von einem Mehr an Lebensraum, Bürokratie und Geld im Portemonnaie: Nicole Uhlig, Zuwanderin aus der Schweiz.
Nachdem wir das Zschopautal bei Wolkenstein durchquert haben, zieht sich die Straße in Kurven den Berg wieder hinauf nach Schönbrunn. Wir halten an einem Fachwerkhaus, man sieht, es wird gerade renoviert. Davor hängt ein Banner mit der Aufschrift: „Luca, willkommen im neuen Zuhaus!“ Wir klingeln an der Tür, zwei Hunde bellen, Nicole Uhlig lässt uns fröhlich lachend ein. Hinter ihr begrüßt uns Luca, der doch etwas anders aussieht, als wir ihn uns vorgestellt haben: 1,85 Meter groß, voll tätowiert, den punkigen Hairstyle lässig unterm Cap versteckt. Luca lebt erst seit Kurzem im Erzgebirge , seine Mutter Nicole seit fast einem Jahr – sie sind aus der Schweiz hierher „ausgewandert“. Im Gespräch erfahren wir bei Keksen, Äpfeln und Tee, dass Ausritte im Erzgebirge wunderbar wildromantisch sind und warum hier alles drei Nummern größer ist als in der Schweiz.
Nicole, warum kommt man von der Schweiz ins Erzgebirge?
Nicole Uhlig [lacht]: Wegen der Liebe! Mein Mann stammt aus dem Erzgebirge, ging nach der Wende in den Westen und lebte an verschiedenen Orten, zuletzt in der Nähe von Mainz. Kennengelernt haben wir uns übers Internet. Lange Zeit haben wir uns nur geschrieben, bis meine Kinder ihn einfach mal eingeladen haben. Das war im Sommer 2007. Wenige Monate später zog er mit in die Schweiz. Weihnachten 2007 fuhren wir dann gemeinsam das erste Mal ins Erzgebirge, in seine alte Heimat. Es war für mich ein komisches Gefühl, die alte DDR-Grenze zu überqueren – man hatte ja so viele Gruselgeschichten gehört. Damals gab es schon noch ein paar Ecken, wo es düster aussah. Da hat sich im Vergleich zu heute vieles entwickelt.
Wie kam es dann zu der Entscheidung, ins Erzgebirge zu ziehen?
Wenn wir Urlaub hatten, fuhren wir immer wieder ins Erzgebirge. Oft war es nicht einfach, eine gute Pension zu finden. Also fingen wir irgendwann an, nach einem Haus zu suchen, das wir als Ferienhaus nutzen konnten. Als wir 2014 dieses alte Fachwerkhaus im Internet entdeckten, wusste ich sofort: Das ist es. Es hat mich an das Haus meiner Oma erinnert: die Natursteinmauer, die Lage am Hang – ich spürte sofort eine Verbindung. Der Kaufpreis war günstig, doch es gab viel zu tun. Urlaub hieß für uns von da an Bauurlaub. Wir haben das Fachwerk verstärkt, arbeiten viel mit Lehmputz, um den ursprünglichen Charakter des Hauses zu erhalten.
Mit dem Umzug hat es trotzdem noch einige Jahre gedauert …
Ich wollte erst warten, bis meine vier Kinder alle groß sind. Dass zwei von ihnen nun sogar mit hierher kommen, hätte ich mir ja nie träumen lassen. Luca ist jetzt 20 und wurde in der Schweiz, wie viele andere auch, wegen Corona entlassen. Hier in Deutschland hat er die Chance, noch einmal eine zweite Ausbildung in seinem Traumberuf zu beginnen – er möchte Kfz-Mechaniker werden. Das wäre in der Schweiz aus finanzieller Sicht nicht möglich gewesen. Hier schätzt man es sehr, wenn jemand mit seinen Händen etwas schaffen will.
Auch eine Ihrer erwachsenen Töchter wird mit ihrer Familie nach Deutschland kommen, richtig?
Ja! Darüber bin ich sehr glücklich. Wir werden uns einen Traum erfüllen und einen eigenen Kinderreiterhof eröffnen. Auch das ist ein Ziel, das in der Schweiz außerhalb unserer Möglichkeiten lag. Ich hatte meiner Tochter immer vorgeschwärmt, wie toll man hier im Erzgebirge ausreiten kann …
Kann man das in der Schweiz denn nicht?
Nicht so wie im Erzgebirge. So endlose Wälder wie hier gibt es dort, wo wir wohnten, einfach nicht. Wo es flach ist, ist alles bebaut, dahinter beginnt der Berg, vorn liegt der See ... Hier im Erzgebirge ist nicht alles so akkurat, dafür wunderbar wildromantisch.
Vermissen Sie nicht manchmal die großartige Natur der Schweiz? Hier gibt es zwar auch schöne Berge, aber fühlt sich denn im Erzgebirge nicht alles drei Nummern kleiner an?
Ach was – es ist alles drei Nummern größer! Sie glauben gar nicht, wie eingeengt es oft in der Schweiz ist. Alle haben immer diese Heidi- Vorstellung von der Schweiz, doch das wahre Leben dort ist anders. Es wird wahnsinnig viel gebaut, das nimmt einem die Luft. Alles dreht sich nur ums Geld, der Profit steht an erster Stelle, und man ist schnell in diesem Trott mit drin. Immer denkt man, man muss noch mehr – und vergisst dabei, zu leben. Wir haben in der Schweiz beide gut verdient, doch geblieben ist davon fast nichts. Hier verdienen wir zwar weniger als die Hälfte, doch am Ende haben wir mehr davon. Man hat doch nur ein einziges Leben!
Gibt es denn auch etwas, das Sie an der Gegend hier schräg finden? Es kann doch nicht alles perfekt sein …
[überlegt und lacht]: Nun ja, die Bürokratie ist noch größer als in der Schweiz. Ich kann oft gar nicht glauben, wofür es in Deutschland alles ein Gesetz gibt. Auch die Arztsuche gestaltet sich momentan noch etwas schwierig. In den Unternehmen wünsche ich mir etwas mehr Wertschätzung den Mitarbeitern gegenüber. Auch von der Technik her komme ich mir manchmal etwas zurückversetzt vor – zum Beispiel, als ich ein Formular mit sieben Durchschlägen auf der Schreibmaschine ausfüllen sollte! Andererseits sind die Menschen im Erzgebirge in vielen Dingen offener als in der Schweiz. Lucas Tattoos sind hier gar kein Problem – in der Schweiz wurde er deshalb auf Arbeit oft extra für Tätigkeiten eingeteilt, bei denen er ja keinen Kontakt zu Kunden hatte. Oder er hat deswegen gar keine Anstellung erst erhalten.
Wie würden Sie die Erzgebirger beschreiben?
Ich mag die Art der Menschen hier – sie sind auf jeden Fall nicht arrogant. Am Anfang sind sie ein bisschen zurückhaltend und brauchen etwas, bis sie Vertrauen fassen. Und sie übernehmen Verantwortung. Das beste Beispiel dafür ist mein Mann: Er hat sich keine Sekunde davor gescheut, dass ich vier Kinder habe und hat mich von Anfang an mit voller Kraft unterstützt. Der Familiensinn ist hier stark ausgeprägt. Allerdings können die Erzgebirger (besonders die Männer) auch schnell mal explodieren … ich nehme es mit Humor [lacht].
Haben Sie bei Ihrem Umzug Unterstützung vom Welcome Center Erzgebirge bekommen?
Ja, ganz großartige! Ohne deren Unterstützung hätte ich mich nie getraut, mich auf meinen jetzigen Job als Amtsleiterin im Bau- und Ordnungsamt in Crottendorf zu bewerben. In der Schweiz war ich zwar auch in der kommunalen Bauverwaltung als stellvertretende Bau-Bereichsleiterin tätig, doch die deutschen Bauvorschriften kannte ich natürlich nicht. Nun darf ich mit meinen Aufgaben wachsen – das ist eine wunderbare Herausforderung. Auch mein Mann hat seinen Traumjob gefunden. Er ist absoluter Eisenbahnfan. Schon als Jugendlicher half er beim Wiederaufbau der Preßnitztalbahn mit. Die Leute dort haben sich sofort an ihn erinnert und ihn mit offenen Armen empfangen. Mit seiner Festanstellung in der Werkstatt der Preßnitztalbahn ist für ihn ein Traum in Erfüllung gegangen. Jetzt unterstützt uns das Welcome Center bei der Anerkennung der Ausbildung meiner Tochter als Erzieherin und bei der Suche nach einem Job und Ausbildungsplatz für Luca.
Text: Sylva-Michèle Sternkopf
Fotos: Erik Wagler