26.11.2019
Lebensqualität im Erzgebirge? Fußläufige Erreichbarkeit!
Zwei Leipziger Dorfkinder ziehen aufs erzgebirgische Land.
Maria und Marcel Dallinger sitzen in ihrer großen Küche, dem Herzstück ihres Hauses in Steinbach, das einst eine Gaststube war. Vor wenigen Jahren wurden hier im ehemaligen Brauhaus Familienfeste gefeiert und fanden Stammtischrunden statt. Dann schlummerte die Immobilie ein paar Jahre - bis das junge Paar die Gemäuer zum Leben erweckte. Der Archäologe und die Gymnasiallehrerin zogen vom hippen Leipziger Stadtteil Plagwitz ins Erzgebirge, in ein idyllisches Dorf unweit der tschechischen Grenze. Größer kann ein Kontrastprogramm im Leben kaum sein.
Wer geht denn freiwillig ins Erzgebirge ? Diese Frage hörten sich Maria und Marcel in ihrem Freundeskreis schon oft an. Vor reichlich drei Jahren zogen sie ins Erzgebirge – zunächst in eine Mietswohnung nach Scheibenberg , seit letztem Jahr leben sie im ehemaligen Brauhaus, zu dem auch eine kleine Pension gehört. Und so plötzlich kam der Gedanke mit einem Leben auf dem Land gar nicht, vielmehr ist er die Konsequenz einer gewachsenen Lebenseinstellung. Großstadtblut fließt bei beiden nicht durch die Adern. Er stammt aus einem kleinen Ort bei Rochlitz, sie aus dem Eichsfeld in Thüringen. Wie so oft kommt das Thema Stadtleben erst dann auf den Plan, wenn das Abitur in der Tasche ist und ein Studium beginnen soll. So war es auch bei Maria und Marcel, die sich als Studenten in Leipzig kennenlernten, und dort die Vorzüge des Stadtlebens für sich nutzten.
Kultureller Überfluss versus dörfliche Abgeschiedenheit
Gerade vier Jahre ist es her, als das junge Paar den Gedanken laut aussprach: Wir wollen ins Erzgebirge. „Schuld“ daran waren ihre Vor-Flitterwochen, die sie in einem kleinen gemütlichen Ferienhaus in Gelobtland bei Marienberg verbrachten. „Am liebsten hätten wir das Haus den Besitzern gleich abgekauft, leider war der Preis für uns zu hoch“, erzählt Maria. Aber der Gedanke setzte sich wie ein Samenkorn fest und wuchs weiter. „Die Abgeschiedenheit dort war toll, diese Ruhe mitten in der Natur .“ Marcel kannte die Region bereits durch Arbeitsstätten seiner Projekte im Landesamt für Archäologie und erzählte Maria, wie schön das Gebirge dort ist.
Die Abgeschiedenheit dort war toll, diese Ruhe mitten in der Natur.
Nach den Urlaubstagen im Erzgebirge zurück in Plagwitz wurde Marcel und Maria einmal mehr bewusst: „Es gibt in der Stadt von allem zu viel. In diesem Überfluss an Angeboten entschieden wir uns abends meist für nichts und blieben nach einem Ganztagsjob doch lieber auf dem Sofa. Manchmal spürten wir auch dieses künstlich erzeugte Großstadt-Lebensgefühl, das einen fast unter Zugzwang setzt, auch ein Stück von dem Kuchen der Attraktionen zu nehmen, um zu den Städtern dazu zu gehören“, erklärt Marcel.
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Und auch wenn Maria heute ab und zu die kulinarische Vielfalt und interessanten Kunstprojekte in Leipzig vermisst, wog der Wunsch nach Natur und Ruhe schon lange mehr: „Grün gibt es auch entlang des Kanals in Plagwitz, aber spätestens nach dem zehnten Spaziergang kennt man doch alles. Um echte Natur zu haben, mussten wir immer eine Stunde Fahrt aufs Land in Kauf nehmen.“
Mitten in der Natur lebt das Paar jetzt, oberhalb des Hauses beginnen Felder und Wälder. Dafür fährt Marcel täglich um die 50 Minuten zu seinem Arbeitsort in Niederdorf, einer Stelle, die er im Fachkräfteportal Erzgebirge fand. „Ich weiß, der Weg klingt weit. Aber ich fühle mich sehr wohl in dem Unternehmen, die Chemie stimmt einfach zwischen uns Kollegen und Leitungsebene. Zudem sind die Produkte, die Planung und Herstellung individueller Möbelsysteme, immer wieder spannend“, erzählt der Archäologe, der seinen unsteten „Reisejob“ gegen einen stabilen in der IT-Abteilung dort tauschte. „Das wochenlange Reisen quer durch Mitteldeutschland war viel anstrengender als die tägliche Fahrtzeit heute, die ich für mich zum Abschalten und Musikhören nutze“, so Marcel.
Traum vom Eigenheim versus begehrter Immobilienmarkt
„Da, ins Erzgebirge, will doch keiner hin“. Dieser wieder und wieder gehörte Satz führte zur logischen Überlegung, sich hier schnell den Traum vom eigenen, günstigen Haus erfüllen zu können. „Dass das Erzgebirge eine zukunftsträchtige Industrieregion zum Leben und Arbeiten ist, haben aber inzwischen doch viel mehr Menschen auf dem Schirm“, meinen beide aus der Erfahrung heraus, dass Hauseigentum begehrt und längst nicht so günstig ist wie geglaubt.
Die Immobilie in Steinbach stand dagegen seit Monaten heimlich auf Marias Liste bei Online-Kleinanzeigen, die Abgeschiedenheit hielt wahrscheinlich viele Interessenten vom Kauf ab. Immer wieder schaute sie die Anzeige an, wohl wissend, dass das ihrem Mann doch zu weit weg von allem ist – vor allem von seinem Job. Als aber auch er gar nichts Geeignetes fand, zauberte sie dann doch ihren Joker aus der Tasche. Bei Besichtigung vor Ort schien das „Alte Brauhaus“ samt Pension viel zu groß – und zu unrealistisch zum Umbau. Doch dann begann das Kopfkino mit der pragmatischen Gewissheit: Es wird viel Arbeit. Punkt.
Jetzt leben sie in dem Haus mit Historie: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat das Grundstück Braurecht. „Wir könnten also theoretisch Bier brauen – sind aber gar keine Biertrinker“, meint Marcel mit einem Augenzwinkern. Die Großzügigkeit des Gasthofsaals ging in eine offene Wohnraumgestaltung ein. Wo früher die Gaststube war, steht heute ein großer Küchentisch mit Platz für viele Gäste und eine große Familie. Die kleine Pension nebenan haben sie renoviert und wird auch weiter von ihnen betrieben. Es ist ein Schmuckstück entstanden – sogar mit Platz für Marias Eltern, die, sobald im Ruhestand, ins Erzgebirge zuwandern werden. Um als Familie im Mehrgenerationenhaus wieder eins zu sein.
Der Menschenschlag der Erzgebirger ist dem meiner Heimat sehr ähnlich
Maria glaubt, dass sie sich schnell wohlfühlen werden: „Der Menschenschlag der Erzgebirger ist dem meiner Heimat sehr ähnlich. Es sind Menschen, die eine harte Schale haben, in der ein weicher Kern steckt und die sehr bodenständig und voller Stolz auf ihre Traditionen sind.“ Sie selbst sei im Lehrerkollegium am Gymnasium schnell angekommen, sogar erste Freundschaften entstanden – während der Freundeskreis in Leipzig in den letzten Jahren mehr und mehr zerfiel, da sich viele in alle Winde verteilten.
Von Kuhherden, Welterbetitel und Spielplatz Natur
Was ist für die beiden Neu-Erzgebirger Lebensqualität? „Dass ich alles fußläufig erreichen kann“, sagt Maria schmunzelnd und meint für sich persönlich: Wiesenblumen, die gemütliche Kuhherde, schneeverwehte Felder im Winter, um gedanklich nach dem Gewusel in der Schule den Kopf frei zu bekommen. Sogar mit Langlauf haben die beiden in der letzten Saison angefangen, „ehrlicherweise wurden wir aufgrund der Schneemassen quasi dazu gezwungen, um überhaupt mal raus zu kommen.“ Für den Archäologen Marcel liegt der Reiz der Region in ihrer Kulturgeschichte, Sprache, Landschaft und Brauchtum. „Alles Dinge, weshalb das Erzgebirge jetzt zurecht den Titel Welterbe tragen darf“, sagt der Fachmann.
Vom infrastrukturell einfachen Leben der Großstadt aufs Land – dass Dorfleben nicht immer rosig ist und es auch seine Zeit dauert, Anschluss zu finden, war beiden von vornherein klar. Ebenso fest stand aber auch:
Unsere Kinder irgendwann in der Großstadt großzuziehen, ist keine Option.
Raum für eine ganze Rasselbande haben sie im umgebauten Dorfsaal und auf dem Spielplatz Natur hinterm Haus nun genug.