16.07.2024
Bergmännische Musiktradition in der Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří seit über 500 Jahren
Am 22. Juli 2024 findet der 528. Bergstreittag in der Bergstadt Schneeberg statt. An diesem Tag gedenken die Erzgebirger ihrer Vorfahren, die sich im Jahre 1496 bessere Entlohnung für ihre Arbeit im Bergbau erstritten. Was einst ein Streiktag war, ist heute ein kultureller Höhepunkt in der Region. Traditionspflege, Musikkultur und Gemeinschaftssinn vereinen sich an diesem Tag zu einem besonderen Erlebnis im UNESCO-Welterbe Montanregion Erzgebirge /Krušnohoří. Auf den Sächsischen Landesbergmusikdirektor Jens Bretschneider und sein Schneeberger Musikkorps sind dann alle Augen gerichtet.
Von seinem Büro aus schaut Jens Bretschneider genau auf die Südfassade des Bergmannsdoms Sankt Wolfgang in Schneeberg. Was für ein Ausblick. So hat man das Gesprächsthema für diesen Beitrag immer direkt vor Augen. Der Berggottesdienst in der spätgotischen Hallenkirche (geweiht 1540) bildet immer den Schlussakkord des Bergstreittages. Auf seinem Besprechungstisch liegen verschiedene seiner Visitenkarten bereit. Dies lässt einen auf den ersten Blick denken, Jens Bretschneider sei Profimusiker. Aber nein, er übt alle seine Musiker- und Vereinsfunktionen im Ehrenamt aus, übernimmt seit Jahren viele Repräsentationsaufgaben für das Musikkorps der Stadt Schneeberg, für die Region Erzgebirge und das Land Sachsen. „Ich mache das alles aus Leidenschaft für die Musik und das Erzgebirge“, betont er.
„Kultur und Musik halten eine Gesellschaft als Gemeinschaft zusammen, fördern geistige Bildung und persönliche Weiterentwicklung“ unterstreicht er. Kritisch beobachtet er seit Jahren die Verrohung in der Gesellschaft. Der aggressive Umgang der Menschen miteinander, vermutet Bretschneider, könne ein Symptom dafür sein, dass Kultur, Musik und Bildung in vielen Familien auf dem Rückzug seien. Ganz anders ist sein Lebensweg gewesen. „Meine musikalische Heimat ist von Kindheit an das Klavier.“ Vater und großer Bruder spielten Trompete, waren immer aktiv in Orchestern. Ihre Erzählungen von Auftritten und Konzertreisen begeisterten den jungen Pianisten. Später lernt er deshalb noch Posaune hinzu.
Auch er findet 1992 als Jugendlicher Aufnahme in ein Orchester: das Musikkorps der Bergstadt Schneeberg. Dort erlebt er zum ersten Mal die Bergmusik, spielt mit auf beim Bergstreittag, zu anderen Bergparaden oder zum Lichtelfest in der Weihnachtszeit . Diese Erfahrungen sollten ihn tief prägen. Die Begeisterung dafür hat ihn nie wieder losgelassen.
„Irgendwann fing ich als junger Mensch an, darüber nachzudenken, warum jede Bergstadt ihren eigenen Bergmarsch hat“,
erinnert sich Jens Bretschneider.
Fragen stellte er sich als junger Mann: Warum ist Schneeberg eine Bergstadt? Warum gibt es heute noch Bergparaden? Warum sind die Menschen von der Bergmusik heutzutage so begeistert? Über Jahrhunderte entwickelten sich in der Bergbaukultur des Erzgebirges ein wahrer Musikschatz und ein reiches, auch religiös geprägtes Liedgut. Bergmannsstolz, berufsständisches Brauchtum und christliche Frömmigkeit gingen eine Symbiose ein, die die Tradition und die Gemeinschaft im Erzgebirge bis heute prägen.
Ein Schlüsselerlebnis war für Bretschneider der 8. Deutsche Bergmannstag 1998 in Schneeberg, bei dem der damalige Bundespräsident Roman Herzog zu Gast war. Das Großereignis mit zehntausenden Gästen aus ganz Europa brannte sich tief in sein Gedächtnis ein. „Da habe ich zum ersten Mal wirklich begriffen, welche Dimensionen die bergmännische Kultur hat“, sagt er rückblickend. So ergriffen von der Tradition, übernahm er schon früh Verantwortung, etwa als Leiter eines Bläserquintetts und des Posaunenchors der Evangelisch-Methodistischen Kirche in Schneeberg.
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Damit reifte über die Jahre sein Ehrgeiz, sich zum Dirigenten weiterzubilden. 2001 bis 2003 besuchte er Seminare beim Rundfunkblasorchester Leipzig. „Mein damaliger Dozent Jochen Wehner verstand es“, so spricht Bretschneider voller Verehrung für seinen Lehrer, „mich richtig zu begeistern. Das Dirigieren hat mich gepackt und nie mehr losgelassen.“ 2009 übernimmt er in der Nachfolge von Hermann Schröder die Verantwortung als Leiter für das Musikkorps der Bergstadt Schneeberg. Es ist der Lohn für viel Engagement seit der Kindheit, zugleich Dankbarkeit und Verpflichtung seinem Mentor gegenüber.
„Im Rückblick empfinde ich meine Jugend, mein Heranwachsen in der Gemeinschaft eines so tollen Klangkörpers als ein großes Geschenk.“
65 Musiker sind im Musikkorps aktiv. Das will gemanagt werden. Seine Freizeit im Sinne ganz freier Zeit ist knapp bemessen. Ehrenamt ist jedoch für ihn nicht nur Verpflichtung, sondern auch große Freude und Zeit mit Freunden.
Im Jahre 1496 wollten die Schneeberger Bergwerke aufgrund steigender Betriebskosten den Lohn der Bergleute senken. Aber die Knappschaft des Reviers Schneeberg kämpfte mit einem Streik um die Entlohnung. Mit Erfolg: Die Lohnkürzung wurde zurückgenommen. Seitdem begehen die Schneeberger diesen Tag als Festtag immer am 22. Juli, egal auf welchen Wochentag dieser fällt, und präsentieren sich mit ganzem Stolz der Region und zelebrieren ihr Brauchtum.
Familie Bretschneider ist mit viel Herzblut dabei. „Meine Frau ist für mich eine große Stütze, um all das neben dem Beruf tun zu können. Vom Musikgeschmack her sind wir allerdings sehr unterschiedlich. Es muss nicht jeder Klassikfan sein wie ich“, schmunzelt er. Seine jüngste Tochter lernt Klavier, die mittlere Tochter lernt Flöte, sein Sohn Noah, der älteste der Geschwister, lernt Klavier und Tenorhorn. Gemeinsame Auftritte mit dem Vater absolvierte Noah schon einige, sang sogar im Duett mit ihm zu Weihnachten im Leipziger Gewandhaus.
Bretschneider stellt mit einiger Strenge klar, dass er dabei nicht Vater sei, sondern Dirigent und Orchesterleiter. Noah müsse genauso fleißig üben wie alle anderen Musiker im Schneeberger Musikkorps. Musik sei eben für das Publikum nur dann ein Genuss, so betont er, wenn sie mit Anspruch eingeübt und vorgetragen werde:
„Trotzdem steht für mich die Familie an erster Stelle. Aber ich könnte nicht ohne Musik leben. Musik ist mein Anker, mein seelischer Halt, aber auch Ladestation für neue Energie.“
Alle Musikerinnen und Musiker des Bergmusikkorps fiebern bei den nächsten Proben dem Auftritt zum Bergstreittag entgegen. Der Bergstreittag ist einmalig auf der Welt und einer der Gründe, warum die Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří von der UNESCO als gesamte Region zum Welterbe tituliert worden ist: materielle Sachzeugen, bauliche Denkmale und immaterielles Kulturerbe.
Text: Carsten Schulz-Nötzold
Fotos: Georg-Ulrich Dostmann