05.07.2022
Die fünf Blaufarbenwerke im Erzgebirge besaßen einst das weltweite Monopol auf die Produktion von Kobaltblau
Es ist Ende Oktober. Der Himmel über dem sächsischen Erzgebirge erstrahlt in kräftigem Blau. Dieses Wetter ist wie geschaffen, um auf den Spuren einer faszinierenden Geschichte zu wandeln: der Herstellung von Kobaltblau und Ultramarinblau. Vom 17. bis zum 20. Jahrhundert belieferten fünf Hüttenwerke von hier aus die ganze Welt mit diesen blauen Farbpigmenten.
In der Nickelhütte Aue , wo sich heute eines der innovativsten Hüttenwerke für Buntmetall-Recycling in Europa befindet, liegen die Wurzeln des berühmten Kobaltblau. 1635 wurde an diesem Standort das Hüttenwerk Niederpfannenstiel gegründet. Hier arbeitet Dr. Mike Haustein als Chemiker. Er ist Autor eines Buches zum sächsischen Kobalt- und Blaufarbenwesen und engagiert sich im Förderverein Schindlers Blaufarbenwerk e.V.
Dieses liegt neun Kilometer von Aue entfernt, flussaufwärts im waldreichen Tal der Zwickauer Mulde. Schindlerswerk wurde im Jahre 1649 gegründet. Wegen des geschlossenen, weitgehend erhaltenen Bestandes von 30 Baudenkmalen gilt es weltweit als einmaliges Ensemble. Deshalb ist es ein Bestandteil des UNESCO-Welterbes der Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří. Und noch heute werden hier Farben produziert.
Es ist wahrscheinlich die älteste Farbfabrik der Welt
Ursprung der Geschichte des Kobaltwesens waren die reichen Kobaltvorkommen in den Erzschichten der Region um Aue, Schneeberg , Schwarzenberg , Annaberg-Buchholz und Zschopau . Bergbau und Industriegeschichte haben hier eine lange Kontinuität. Am Standort der Nickelhütte läuft der Hüttenbetrieb seit 1635 ohne Unterbrechung. Heute arbeiten hier etwa 480 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In Schindlerswerk werden seit 1649 bis heute ununterbrochen Farbpigmente produziert: „Es ist wahrscheinlich die älteste Farbfabrik der Welt“, betont Dr. Mike Haustein.
Eine bald vergessene Tradition wird neu aufgearbeitet
Diese besondere Geschichte sei lange Zeit gar nicht so im Bewusstsein der Menschen gewesen, meint Haustein, doch dafür hat er eine Erklärung: „Das Kobaltblau und das spätere Ultramarinblau sind heute vom Markt fast komplett verschwunden.“ Sie wurden als Massenprodukte über Jahrhunderte hergestellt und dienten bis in die 1960er Jahre in der Papier- und Textilindustrie zum physikalischen Bleichen von Papier und Wäsche. Das funktioniert, weil Blaupigmente die Komplementärfarbe zu Gelbtönen bilden. Im Ergebnis der Behandlung werden Papier und Wäsche weiß. Heute findet das Bleichen über chemische Prozesse mit Peroxoboraten statt.
Förderverein Schindlers Blaufarbenwerk e.V.
Schindlerswerk 9
08321 Zschorlau
https://www.förderverein-schindlers-blaufarbenwerk.de
Meissner Porzellan und Delfter Kacheln, die man heute noch als berühmte Traditionsprodukte mit Blaufarbenbemalung kenne, so Haustein weiter, seien seinerzeit allerdings nur Nischenanwendungen gewesen. Die Spuren des Kobaltblau aus dem Erzgebirge lassen sich in die ganze Welt verfolgen, wofür auch die Holländer mit ihrem Handelsimperium mitverantwortlich waren. Alte Handelskontrakte aus dem 17. Jh. hat Mike Haustein in den Archiven gefunden. Das Blau der berühmten Azulejos (portugiesisch: Fliesen) an den Gebäuden in Lissabon färbt Kobaltblau aus dem Erzgebirge, was die Holländer lieferten.
Chemisch gesehen, so erzählt Dr. Mike Haustein, gründet das Blaufarbenwesen im Erzgebirge in historischer Folge auf zwei technischen Verfahren. Erstes Produkt seit dem 17. Jh. war das Kobaltblau, eine durch Kobalt gefärbte Glasschmelze, die sogenannte Smalte. Diese unterschied sich in Eschel, die Farbpigmente, und in Saflor, ein Halbzeug für das Färben von Glas. Die Glasfärbung mit Kobaltblau ist noch wesentlich älter, reichen bis in die Antike zurück.
Bereits im Mittelalter verwendeten es die Venezianer auf der Glasbläserinsel Murano. Erstaunlich ist auch der Befund des französischen Chemikers Bernard Gratuze, der in den 1990er Jahren Kobaltblau aus den Revieren Schneeberg und Freiberg in Frankreich, sowohl in Keramik als auch Glas, nachgewiesen hat. Das magische Blau der Fensterbemalung aus dem 13.Jh. in der Kathedrale von Chartres, ebenfalls UNESCO-Welterbe, erzeugt das Kobaltmineral aus dem Erzgebirge. Samt Begleitmineralien hat es einen typischen chemischen Fingerabdruck.
Zweites Produkt ab Anfang des 19. Jhs. war das Ultramarinblau. Es ist ein synthetisches Produkt, dass das magische Blau des Minerals Lapislazuli imitiert. „Das war damals ein regelrechter Wettkampf unter den Chemikern, wer als erstes die Formel für die ideale Zusammensetzung und Herstellung eines perfekten Blau entdeckt“, berichtet Haustein voller Spannung. Das Kobaltblau war inzwischen zu teuer in der Herstellung geworden, die Industrie hatte einen ständig steigenden Bedarf an Bleichmitteln.
Die synthetische Herstellung gelang den drei Chemikern Jean-Baptist Giumet (Frankreich, 1828) sowie Christian Gottlieb Gmelin (Universität Tübingen, 1828) und Friedrich-August Köttig (Porzellanmanufaktur Meissen, 1826) unabhängig voneinander. Die Glasfärbung mit Kobaltoxiden gibt es aber bis heute in bestimmten Produktnischen, wobei der größte Lieferant in Norwegen sitzt.
Bewahren, würdigen, vermitteln: UNESCO-Welterbe ist Verpflichtung
Erst durch die Ernennung der Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří zum UNESCO-Welterbe im Jahr 2019 kam die lange Tradition der Kobalterzförderung und der Blaufarbenherstellung wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein. Schon 2017 gründete Dr. Mike Haustein mit weiteren Engagierten einen Förderverein, um Schindlerswerk vor dem Verfall zu retten: „Schindlerswerk hat das Alleinstellungmerkmal, mit 30 Gebäuden eine vollständig erhaltene Montanfabrik zu sein.“ Im Augenblick läge der Fokus des Vereins vor allem auf der baulichen Sicherung der historischen Gebäude und technischen Anlagen.
Wer mit Haustein einen Rundgang auf dem Gelände unternimmt, kann die Herstellung der Blaufarben komplett nachvollziehen. Der große Unterschied zur Nickelhütte in Aue ist, dass in Schindlerswerk nach 1990 keine große Investition stattgefunden hat. So blieb die alte Bausubstanz erhalten. Aus der Nickelhütte wurde eine topmoderne Buntmetallhütte, Schindlerswerk blieb eine kleine Manufaktur.
Trotzdem sind auch in der Nickelhütte noch einige historische Gebäude erhalten, die restauriert wurden. Eines davon, das ehemalige Magazin, ein Lagerhaus für Kobalterze (gebaut um 1800), ist heute Kantine für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ein anderes, das ehemalige Hüttenlaboratorium (gebaut 1848) ist heute ein kleines Museum und wird betreut vom Förderverein Schindlers Blaufarbenwerk e.V. Jedes Jahr zum Tag des offenen Denkmals im September ist es zu besichtigen.
Der historisch gemeinsame Weg der beiden Hütten gabelte sich im 19.Jh.: Schindlerswerk schwenkte um auf die Herstellung von Ultramarinblau; das Blaufarbenwerk Niederpfannenstiel in Aue verarbeitete zunehmend Nickel – daher der Name Nickelhütte. Das ist ein Metall, das bei der Kobaltaufbereitung aufgrund der Erzzusammensetzung in der Region sowieso anfiel. Als im Jahr 1823 Ernst August Geitner in Schneeberg die Herstellung von Argentan gelang, wurde viel Nickel gebraucht. Argentan (auch Neusilber) besteht aus 20 Prozent Nickel, 55 Prozent Kupfer und 25 Prozent Zink. Anwendung fand es vor allem in der Besteckfabrikation.
Zwei Mal im Jahr organisiert der Förderverein Rundgänge für Besucher in Schindlerswerk. Führungen finden ab 10 Personen auf Voranmeldung statt. Mit Verleihung des UNESCO-Welterbes nahmen die Pläne für die Erhaltung von Schindlerswerk konkrete Formen an. Zuerst soll ein Besucherzentrum entstehen. Dafür wird das ehemalige „Schwarze Casino“ (Baujahr 1902), die Werkskantine, saniert. Es liegt günstig direkt an Zufahrt und Werkstor. „An den Besuchertagen erleben wir bereits jetzt einen Ansturm von mehreren hundert Gästen. Das Interesse nimmt stetig zu“, freut sich Haustein.
Dieses Engagement von Dr. Mike Haustein und den Fördervereinskolleginnen und –kollegen folgt genau dem Ansinnen des UNESCO-Welterbes. Solche Projekte beinhalten erstens einen Schutzauftrag und verpflichten zum Erhalt der Denkmale (Bewahren der Sachzeugen); zweitens einen Wissensauftrag mit der Verpflichtung zur Erforschung (Würdigung der menschlichen Zivilisation und Kultur); drittens einen Vermittlungsauftrag mit Bildungsangeboten und Öffentlichkeitsarbeit (Achtung von Lern- und Begegnungsorten).
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Typisch Erzgebirge: Traditionsbewusstsein und Innovationsfähigkeit
Dr. Mike Haustein betont, Schindlerswerk sei nicht nur bedeutsam für den Tourismus, sondern auch für die Identität der Einheimischen und als Bildungsangebot für Schülerinnen und Schüler. Großes Vorbild ist für ihn der UNESCO-Welterbe-Bestandteil Saigerhütte in Olbernhau , in dem über Jahrzehnte bereits touristische Infrastruktur geschaffen wurde. Dafür werde es in Schindlerswerk einen langen Atem und viele Engagierte brauchen, ist sich Haustein sicher. Ein Anfang sei gemacht, man müsse den eingeschlagenen Weg nur konsequent weitergehen.
Seine persönliche Verbindung zum Blaufarbenwesen entstand über die Wissenschaft. Er studierte Chemie an der Technischen Universität Bergakademie Freiberg (gegründet 1765), wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Archäometrie. Hier war Haustein u.a. an der Untersuchung der berühmten Himmelsscheibe von Nebra/Sachsen-Anhalt beteiligt. Seine Affinität zur Historie verstärkte sich über eine Projektarbeit im Jahre 2004, als er erstmals mit dem Thema Blaufarben in Berührung kam.
Der renommierte Freiberger Chemiker Clemens Winkler (1838-1904) hatte 100. Todestag. Haustein schrieb eine Biografie. In den Archiven von Schindlerswerk und Nickelhütte fand Haustein interessante Dokumente zum Wirken Winklers in den Blaufarbenwerken. Winkler entwickelte in den 1860er Jahren das weltweit erste Verfahren zur Rauchgasentschwefelung. Noch heute wird auf dieser technischen Grundlage industrielles Rauchgas auf der ganzen Welt entschwefelt – auch in der Nickelhütte Aue.
Schon damals war es im engen Muldental durch die Rauchgase rund um Schindlerswerk zu einem Waldsterben gekommen. Mit dem Betrieb der Anlage konnte Clemens Winkler 90 Prozent des Schwefelgehaltes aus dem Rauch extrahieren und damit einen wertvollen Rohstoff zurückgewinnen – der Beginn der Kreislaufwirtschaft. Der Umweltschutz basierte aber damals zunächst auf ökonomischen Erwägungen der benachbarten Forstwirtschaft, die durch das Absterben der Bäume erhebliche Verluste erlitten hatte. Später wird Winkler als Professor in Freiberg im Jahr 1886 das Element Germanium entdecken. Es ist der Zenit seiner Laufbahn.
Dr. Mike Haustein führte seine wissenschaftliche Arbeit zunächst nach Baden-Württemberg ans Curt-Engelhorn-Zentrum für Archäometrie in Mannheim und die Universität Tübingen. 2009 kehrte Haustein zurück ins Erzgebirge. Er erhielt das Angebot, als Chemiker in der Nickelhütte zu arbeiten. Heute ist er Abteilungsleiter für Hydrometallurgie. Hergestellt werden Nickelsulfat, Kobaltsulfat und Nickelchlorid für galvanische Anwendungen. Ein großer Player ist die Nickelhütte mittlerweile im Recycling ausgedienter Lithium-Ionen-Akkus aus der Autoindustrie. Daraus werden die Rohstoffe zurückgewonnen und in den Wirtschaftskreislauf zurückgeführt. Alte Kompetenz, neue Anwendung.
Die Nickelhütte ist seit jeher sehr traditionsbewusst, nicht nur bei den technischen Kompetenzen
„Die Nickelhütte ist seit jeher sehr traditionsbewusst, nicht nur bei den technischen Kompetenzen. Daher investiert das Unternehmen auch in kulturelle Projekte“, erklärt Haustein. Zum 375. Jubiläum des Unternehmens im Jahr 2010 verfasste er eine Chronik. Die Geschichte des Blaufarbenwesen ließ ihn fortan nicht mehr los. In dieser Zeit erkannte er schon, dass Schindlerswerk aufgrund des rasenden Verfalls dringend Hilfe benötigt.
Haustein stand mit dem Gremium, das damals den Antrag für das UNSECO-Welterbe vorbereitete, in Verbindung und hob die Bedeutung des Blaufarbenwesens hervor. Und so kam es schließlich mit auf die Liste und ist das größte Einzeldenkmal unter den 22 Bestandteilen des UNESCO-Welterbes Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří. Als am 6. Juli 2019 die Titelvergabe in Baku verkündet wurde, war Dr. Mike Haustein zu Hause und verfolgte die Entscheidungsfindung in den Medien. Per Telefon und sozialen Medien verbreitete sich die gute Nachricht in Windeseile unter den Vereinskollegen. „Es war eine riesige Freude für mich und alle Mitglieder. Wir haben lange daraufhin gefiebert.“ Aber Zweifel hatte ich nie, dass es klappt“, lacht er stolz.
Aufbauen, arbeiten, verwandeln: Der Kern der erzgebirgischen DNA
Die Innovationsfähigkeit ist eine typisch erzgebirgische Mentalität. Das sicherte das Überleben der Montan- und Metallkompetenz bis heute. Betriebe hatten seit jeher einen starken Rückhalt bei den Mitarbeitern und bei den Städten. Hier lebte und lebt man vom Geben und Nehmen. Das Blaufarbenkonsortium, Zusammenschluss aller fünf Blaufarbenwerke im Erzgebirge (1694), war schon damals in dieser Hinsicht sehr fortschrittlich.
Es gab Arbeiterwohnungen und Schulen in der Nähe der Betriebe. Im Werk Niederpfannenstiel (heute Nickelhütte) wurde 1717 die erste Betriebskrankenkasse Deutschlands gegründet. „Die Knappschaftskassen im Bergbau gab es schon früher. Aber dieses Modell auf einen Industriebetrieb zu übertragen, war damals eine neue Idee“, so Haustein. Das ist eine faszinierende Botschaft, die im UNESCO-Welterbe Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří steckt: die fruchtbare Verbindung von technischem und sozialen Fortschritt.
Die Fachleute an die Betriebe zu binden, hatte auch den Zweck, die Geheimnisse der Blaufarbenherstellung zu bewahren. Nahezu ein Jahrhundert ließ sich das Monopol halten und damit die Weltgeltung der erzgebirgischen Blaufarbenherstellung begründen. Der Export erfolgte in die ganze Welt, eigens dafür existierte seit 1694 ein Vertriebsbüro, das sogenannte Hauptblaufarbenlager, auf der Leipziger Messe. Die Verpackungen, die im kleinen Museum der Nickelhütte ausgestellt werden, zeugen davon.
Erst die Erzgebirger verstanden es, den Herstellungsprozess industriell zu reproduzieren und zu normen
„Blaufarben auf Kobaltbasis gab es zwar schon im alten Ägypten“, so Dr. Mike Haustein, „erst die Erzgebirger verstanden es, den Herstellungsprozess industriell zu reproduzieren und zu normen. Im Ergebnis konnte man über Jahrhunderte konstante Qualität liefern. Das Know-how nutzen wir noch heute in der Nickelhütte bei der Rohstoffgewinnung im Recyclingprozess.“ So schließt sich mit dem Rohstoffkreislauf auch der Kreis zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft.
Montanwesen und Hüttenwesen, Grundlagenforschung und Industrieinnovation, sozialer Fortschritt und kulturelle Tradition wirkten hier im Erzgebirge über 800 Jahre zusammen. Seit dem ersten Silberfund 1168 bei Freiberg waren dies die sechs Antriebskräfte der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung, und zwar mit Ausstrahlung in die ganze Welt, so das Resümee von Dr. Mike Haustein: „Die einzelnen Bestandteile des UNESCO-Welterbes repräsentieren diese vielfältigen Zusammenhänge sehr gut. Diese Komplexität unterscheidet uns von den meisten anderen Welterbestätten.“
Text: Carsten Schulz-Nötzold
Fotos: Georg Ulrich Dostmann