Emanzipation vom Klischee

10.08.2021

Zwischen Culture Clash und Ideentransfer – über die Tradition des Erzgebirges, sich immer wieder neu zu erfinden.

Nähert man sich der kleinen Bergstadt Schneeberg , scheint sich die Zeit vermeintlich zu entschleunigen. In goldene Spätsommersonne getaucht, ziehen an den Autoscheiben die Häuser vorbei, immer im Blickfeld des erhabenen Turms der St.-Wolfgang-Kirche. Doch auch wenn sonst so oft die pittoreske Altstadt mit ihren opulenten Barockbauten und dem Glockenspiel im Zentrum des Interesses steht, führt der Weg heute aus dem Stadtkern heraus, geradewegs zum Siebenschlehener Pochwerk. Mächtig türmt sich das Fachwerk mit seinen dunklen Holzfassaden in der frühherbstlichen Landschaft auf und doch lässt das leuchtende Grün ringsum mitsamt der Katze ein friedliches Bild ländlicher Idylle entstehen.

Heute zumindest, denn jahrhundertelang war hier die Atmosphäre erfüllt von den ohrenbetäubenden Schlägen der Pochstempel, wenn sie das Erzgestein zerkleinerten. An diesem Nachmittag komplettiert der Kaffeetisch der beiden Designerinnen Franziska Heinze und Thekla Nowak die Idylle. Gemeinsam mit Produktdesigner Lars Dahlitz und Holzgestalter Marcus Weber haben sie 2019 in den alten Räumen des Objektes der UNESCO-Welterberegion ihr Atelier und ihre Werkstatt eingerichtet. Alle vier sind Absolventen der Fakultät für Angewandte Kunst in Schneeberg – einem Ableger der Westsächsischen Hochschule Zwickau . Obwohl nur Marcus seine Wurzeln im Erzgebirge hat, entschieden auch Franziska, Thekla und Lars, nach ihrem Abschluss in Schneeberg zu bleiben. Denn viel vermissen die vier Freunde in dem Städtchen mit 15.000 Einwohnern nicht.

Trubel in der Poche

Ganz im Gegenteil: Strahlend schwärmen Franziska und Thekla von der Natur vor ihrer Tür und der Möglichkeit, einfach wandern zu gehen. „Die Idylle hat etwas so Beflügelndes und Inspirierendes. In den Großstädten gibt es außerdem schon viele Ateliers und natürlich hat das seinen Reiz. Für uns war es aber gerade der Reiz, dass man hier in Schneeberg eben nicht auf ausgetrampelten Pfaden läuft, sondern etwas Eigenes aus dem Nichts erschafft.“

Nur ein Kunstfestival fehlt. Weil sie aber ganz genau wissen, dass in kleinen Orten immer nur das stattfindet, was man selbst organisiert, planen sie den „Trubel in der Poche“. Das hippe Festival sollte dieses Jahr im Rahmen der Festtage des 550. Stadtjubiläums stattfinden. In Anbetracht der Situation wurde die Verlegung der großen Feierlichkeiten in der Stadt auf 2026 beschlossen und das Jubiläum im kleinen Rahmen begangen. So war auch das geplante Festival „Trubel in der Poche“ kleiner als geplant: Inmitten der historischen Kulisse wasserbetriebener Radanlagen, Erzsiebe, Kobaltkammern und Ausschlagstuben wurde ein buntes Sommerfest veranstaltet. Was auf den ersten Blick fast widersprüchlich scheint, ist genau der Culture Clash, den Franziska, Thekla, Lars und Marcus erzeugen wollen – ein Aufeinandertreffen vermeintlicher Gegensätze, das sich zu einem Feuerwerk künstlerischer Schöpferkraft erheben soll.

Ihren ganz eigenen „Kulturkampf“ erleben die Designer aber schon jetzt jeden Tag. Denn lange, bevor sie mit ihren Ateliers ins Pochwerk zogen, lebte hier bereits der einstige Steiger. Heute ist Peter Günther im Ruhestand und genießt im Haus nebenan sein „Leben im Museum“, wie er es selbst scherzhaft nennt. Nachdem er wie Tausende Bergleute zur Wende seine Arbeit verlor, bewarb er sich um eine Stelle bei der Sanierung des Pochwerks.

Die Idylle hat etwas so Beflügelndes und Inspirierendes.

1995 eröffnete schließlich das Museum, das er bis zu seinem Ruhestand leitete. Heute teilen sich der alte Herr und seine Frau das Gelände mit den Designern und haben sich sogar mit ihnen angefreundet, erzählt Franziska: „Das ist natürlich eine besondere Freundschaft, auf die wir sehr stolz sind – schon allein wegen des Altersunterschieds. Er und seine Frau haben schnell gemerkt, dass wir es ernst meinen. Das hat uns sehr aneinandergeschweißt. Da kommt er dann schon mal auf ein Stück Kuchen rum oder hält eine Spontanführung. Neulich hat er uns sogar bei der Gestaltung einer Fahne geholfen. Das ist schon eine Art Culture Clash und genau das, was wir mit unserem Festival in einem größeren Rahmen schaffen wollen.“

Ideentransfer: Von Schneeberg nach Seiffen

Wenn die vier nicht gerade gemeinsam das Festival und die regelmäßigen Workshops für Kinder und Erwachsene organisieren, gehen sie in der Poche ihren eigenen Projekten nach. Während Textildesignerin Thekla oft am Webstuhl zu finden ist und gerade Babydecken mit Stadtmotiven designt, widmet sich Franziska dem Upcycling. Stolz zeigt sie Shirts, auf denen sie kunstvoll Drucke des Mülls arrangiert, den sie bei ihren Clean-ups findet. Die handgeschöpften Etiketten bestehen aus dem Papier weggeworfener Kaffeebecher.

Lars hingegen trifft man am ehesten in der Holzwerkstatt, die in künstlerischem Chaos erstrahlt. Dort arbeitet er gerade an Holzschmuck für sein Label „Larsens“. Nur Marcus ist nicht da, denn er befasst sich am anderen Ende des Erzgebirges in der „Denkstatt“ damit, seinen modernen Entwurf von Bergmann und Engel zur Serienreife zu entwickeln.

Szenenwechsel. Ein riesiger Kastanienbaum mit tief hängenden Ästen leitet den Weg auf den Hof der Denkstatt. Wir befinden uns am Rande von Seiffen – der Ort, der weit über seine Grenzen hinaus als Spielzeugdorf berühmt ist. Gerade einmal 2.500 Menschen leben hier, während jedes Jahr 400.000 Touristen in die vielen Schnitzwerkstätten strömen, um die traditionellen erzgebirgischen Figuren, Spielzeuge, Schwibbögen und Pyramiden zu kaufen. Doch die Romantik droht zu sterben. Den Drechslern und Spielzeugmachern fehlt der Nachwuchs. Knapp 130 Kunsthandwerksbetriebe sind in der Seiffener Drechslergenossenschaft organisiert, die Hälfte sucht aus Altersgründen Nachwuchs, der sich nur schwer finden lässt.

Neue Gedanken fürs Spielzeugdorf

Damit das Szenario des aussterbenden Spielzeugdorfes nicht zur bitteren Realität wird, soll die Denkstatt jungen Holzgestaltern den Weg ins Erzgebirge bereiten. Leiter und Initiator Wolfgang Braun hat sich der Aufgabe verschrieben, Studenten und jungen Handwerkern in der hellen, offenen Werkstatt mit seinem Rat und der Erfahrung aus 35 Jahren Holzspielzeugmacherleben zur Seite zu stehen. Dort will er Raum schaffen für Experimente, neue Designkonzepte und Marketingideen.

Die Tradition des Erzgebirges ist es, sich neu zu entwickeln.

Weil sich die Idee der Denkstatt bei einem Wettbewerb behaupten konnte, fördert der Freistaat Sachsen das Projekt mit 450.000 Euro – ein Anschub zum Generationenwechsel. Wer eine konkrete Geschäftsidee voranbringen möchte, kann ein Vierteljahr mietfrei wohnen und die großzügig ausgestattete Werkstatt nutzen. Dabei müssen die Ideen gar nicht unbedingt dem traditionellen Handwerk entsprechen, wie wir es seit Hunderten von Jahren aus dem Erzgebirge kennen. Denn wie unser Leben dürfen sich auch Kunst und Handwerk weiterentwickeln – das wissen die alteingesessenen Holzspielzeugmacher des Erzgebirges. „Die Tradition des Erzgebirges ist es, sich neu zu entwickeln. Wir wollen nicht alles umkippen. Natürlich soll es weiterhin Nussknacker und Räuchermänner geben. Aber wir wollen neu denken. Die Gedanken sind frei.“

Nach dieser Maxime unterstützt Wolfgang Braun mit seiner Expertise auch Marcus Webers Entwurf von Bergmann und Engel mit Bauhaus- Charakter. Entgegen dem Original zieren seine Figuren nur wenige dekorative Elemente, die Farbflächen sind großflächig gestaltet. Dennoch entspricht die Herangehensweise ganz der erzgebirgischen Tradition. Der Entwurf wurde von vornherein seriell gedacht und kann nun von der Seiffener Drechslerei Schalling in Serie produziert werden. Um mehr erfolgreiche Projekte wie dieses zu initiieren, veranstaltet Wolfgang Braun regelmäßig Workshops, Stammtische und Vorträge, um dort die Seiffener Kunsthandwerker mit jungen Manufakturen und kreativen Köpfen, wie Marcus Weber, zusammenzubringen.

Wolfgang Braun ist stolz darauf, dass mit Marcus Webers moderner Variante von Bergmann und Engel nicht mal ein Jahr nach Projektstart das erste serienreife Produkt die Denkstatt verlässt. „Ich will nicht weiter die Defizite benennen, sondern die Chancen sehen“, betont er. Denn wenn etwas in der Natur der Erzgebirger liegt, so ist es die Fähigkeit, umzudenken, sich neu aufzustellen und Platz zu machen für neue Lösungen – sei es in Form innovativen Kunsthandwerks oder eines Festivals, das beweist, dass junge Kunst und modernes Handwerk bestimmt keine Phänomene der Großstadt sind.

Text & Fotos: Magda Lehnert

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