06.04.2020
Wie sich krisenerprobte Erzgebirger immer wieder neu erfinden
Kinder lieben und brauchen Bewegung für eine körpergerechte Entwicklung. Und doch werden sich viele noch an ihre eigene Schulzeit und den strengen Satz des Lehrers erinnern: „Hör auf zu kippeln!“ Dass das Kippeln eines Tages zur Gesundheitsförderung von Kindern eingesetzt wird, hätte damals wohl keiner gedacht. Aber Kippeln ist nicht gleich Kippeln – die Tücke steckt im Detail. Denn gemeint ist hier das gezielte Wippen mit ergonomisch geformten Stühlen, um die Wirbelsäule in Bewegung zu halten. Diese, aber auch höhenverstellbare und flexible Tische für Schule und Büro sowie Regale und Schränke für Büroobjekte und Bibliotheken verlassen täglich die Schul- und Stahlrohrmöbel GmbH in Stützengrün. Das Unternehmen ist eines von etwa einer Handvoll Herstellern deutschlandweit. Allein der Stuhlkatalog umfasst heute 20 Modelle, die in einer Vielzahl an Material- und Farbvarianten zu haben sind. Ganz anders als zu DDR-Zeiten, wo ein und derselbe Stuhl in Größenordnungen produziert wurde, liegt heute das Augenmerk auf Individualität und das Umsetzen von neuen, gesunden Ideen. „Dabei kommen die Ideen weniger von uns, sondern direkt vom Kunden. Wir optimieren diese dann gemeinsam aus unseren Erfahrungen heraus und setzen sie individuell um“, erklärt Glöde.
Vom Holz zum Metall – Umdenken für alle
Stützengrün, ein kleiner Ort im Westerzgebirge, liegt mitten im traditionellen Zentrum der Bürstenmacherregion. Seit 1830 spezialisierten sich Handwerker als Hersteller von Bürsten und Pinseln aller Art von Hand- und Zahnbürsten bis hin zu industriellen Spezialbürsten, von denen es heute knapp 10 Firmen gibt. So ist es kein Geheimnis, dass Zahnbürsten aus Stützengrün weltweit im wahrsten Sinne des Wortes in aller Munde sind. Auch die Geschichte der heutigen Stahlrohrmöbelfirma begann im Jahr 1920 als Bürstenfabrik „Gebrüder Schürer“: alle möglichen Varianten – außer Zahnbürsten – stellte man her. Und: Die Handwerker um Willy Schürer erfanden einen Kassenschlager, die sogenannte kleine Flurgarderobe, ein dekoratives Set zum Aufhängen mit integriertem Spiegel, Kleiderbürsten und Schuhlöffel. Bis in die 60er Jahre wurden am Standort Bürsten produziert, dann orientierte sich das Unternehmen neu. Dem Holz blieb man aber treu, von nun entstanden daraus Kindergarten- und Schulmöbel. Die Firma avancierte zum einzigen Hersteller dieser Produkte in der ganzen DDR. Das heißt, jedes DDR-Schulkind verbrachte die Jahre seines Schullebens auf einem Stuhl aus Stützengrün. Knappe Holzressourcen und Zwangsenteignung stellte das Unternehmen vor neue Herausforderungen. Stahl hieß der neue Werkstoff, aus dem die holzaffinen aber flexiblen Handwerker von nun an Schulmöbel herstellten. Den nächsten Neustart gab es dann als reprivatisiertes Unternehmen im Jahr 1990. Die Familie sah die Chance und griff zu: mit 30 Angestellten besann man sich zusätzlich zum Metall auf den Rohstoff, aus dem das Unternehmen einst gewachsen war: Holz. Gesund wuchs das Unternehmen nun durch wohl dosierte Investitionen bis heute Stück für Stück.
Im Erzgebirge geht es in Krisen immer weiter - die Erzgebirger finden immer eine Lösung,
spricht Helge Glöde, Geschäftsführer der Schul- und Stahlrohrmöbel GmbH aus Erfahrung. Es ist ein Satz, der im Erzgebirge nicht nur zurückblickend auf die letzten Jahrhunderte zutrifft. Sich Krisen zunutze machen, sich verändern, den neuen Marktbedingungen anpassen, darauf baut die kleingliedrige Wirtschaftsstruktur der Region. Vor hundert Jahren als klassisches Bürstenmacherhandwerk gegründet, hat sich auch die Stützengrüner Firma über vier Generationen immer wieder neu erfunden.
Die Wirtschaft im Erzgebirge:
Stoff statt Plastik – simple Idee mit großer Wirkung
100.000 Stühle, 46.000 Tische und 1.000 Schränke verladen die Mitarbeiter jährlich auf die firmeneigenen Lkws. Viele Kompetenzen vom Stahlrohrschneiden, -bohren, -beschichten über sämtliche Holzarbeiten bis hin zur Montage sind zur Herstellung der funktionsreichen Möbelstücke notwendig, 90 Prozent der Handgriffe setzen die 80 Mitarbeiter am Standort um, der Rest wird fremd vergeben. „Wir leisten uns auch eine eigene Polsterei mit zwei Könnern ihres Fachs, um Lehrer- oder Bürostühle und sogar Loungemöbel und Saalbestuhlung noch komfortabler zu gestalten“, so Glöde. In der Produktion achtet man darauf, mehr als die gesetzlich erforderlichen Umweltstandards zu erfüllen, geht beispielsweise durch besonders schonende Verfahren sparsam mit Chemikalien um. Beim Verpacken der Möbelstücke wird der gelebte Umweltgedanke im Unternehmen optisch deutlich: Anstatt kompakter Plastikverpackungen verwendet man einfache dicke Stoffdecken. Das erspart dem Kunden das Müllproblem und die Decken sind wieder verwendbar, ganz simpel, aber wirksam. Geliefert wird zu 95 Prozent an Händler (etwa 100 an der Zahl, nur 5 Prozent des Umsatzes machen Endkundengeschäfte zu meist Städte und Gemeinden) –aus. Hauptabnehmer finden sich in Deutschland, Österreich, Italien und den Benelux-Staaten, einige wenige Container werden auch weltweit verschifft, zumeist für deutsche Schulen im Ausland.
Schul- und Stahlrohrmöbel GmbH
Auerbacher Straße 39
08328 Stützengrün
Fon : +49 (0) 37462 / 669-0
Email : info@ssrm.de
Dem Rückenschmerz Paroli bieten – von Anfang an
Rückenbeschwerden sind eine Volkskrankheit. Die Wirbelsäule am Arbeitsplatz und in Schule in Bewegung zu halten wird inzwischen als eine Grundvoraussetzung gesehen, um den Krankheiten Paroli zu bieten. „Das Kaufverhalten zeigt deutlich, dass in den vergangenen Jahren zunehmend auf Ergonomie geachtet wurde. So viele Produkte dieser Kategorie wie im Jahr 2019 produzierten wir nie zuvor. So haben wir uns mit unseren Produkten auch da wieder flexibel auf den Markt eingestellt“, betont der Geschäftsführer, der auch im eigenen Unternehmen immer mehr auf gesunde Arbeitsplätze umrüstet. Dazu gehören nicht nur komfortable neigende und kippende Stühle aus leichten Aluminiumgestellen, sondern auch die höhenverstellbaren Schreibtische, die sich großer Beliebtheit erfreuen, um zwischen stehender und sitzender Arbeit zu variieren. Die Angestellten danken dem Unternehmer das mitarbeiterorientierte Denken mit einer geringen Fluktuation: „Wir brauchen Leute mit Erfahrung und Gefühl für die kleinen Handgriffe. Das A und O ist aber, dass sie ins Team passen, sich bei uns wohl fühlen.“ Viele Mitarbeiter kämen aus dem Ort. Für den Stützengrüner Nachwuchs gibt es seit 2018 übrigens ein ganz besonderes Neugeborenengeschenk: einen Gutschein für ein Set aus Tisch und Stuhl für Kleinkinder in frei wählbarer Farbe. 25 Kinder wurden 2018 geboren und alle Eltern hätten diesen Gutschein eingelöst. „Wir wollen den Familien im Ort etwas zurückgeben. Wir brauchen Kinder. Und wer weiß, vielleicht sind da unsere Fachkräfte von morgen dabei“, meint Helge Glöde mit einem Augenzwinkern. Und sind die Steppkes erst im Kindergartenalter, gibt es eine Exkursion in den lokalen Betrieb. So erfahren die wissbegierigen Jüngsten, wie die Stühlchen hergestellt werden, auf denen auch mal gekippelt werden darf.