15.06.2021
Drei Projekte, drei Macher, drei Visionen – ein Interview über Ideen für morgen.
Das Erzgebirge ist eine Region voller Traditionen. Das stimmt. Das Erzgebirge ist eine Region voller Ideen. Das stimmt auch. Schon seit alters her wird das Erzgebirge geprägt durch Forschergeist und Tatendrang der Menschen. Hier paaren sich Fleiß und Erfindertum. Vom Erzgebirge aus traten zahlreiche Erfindungen ihren Siegeszug um den Globus an. Und auch heutzutage tüfteln Wissenschaftler, Unternehmer und Ingenieure im Erzgebirge an Innovationen, die das Potenzial haben, die Welt wieder ein Stück besser zu machen. Unter dem Dach des Förderprogrammes „WIR! – Wandel durch Innovation in der Region“ haben sich im Erzgebirge nun Bündnisse gebildet, die die Aktivitäten zur Innovationsbeschleunigung nachhaltig voranbringen. Mit den Projekten „Smart Composites Erzgebirge“ ( SmartERZ ), „Smart Rail Connectivity Campus“ (SRCC) und „recomine“ hat die Zukunft schon begonnen – im Erzgebirge.
Regionale Innovationsbündnisse machen das Erzgebirge smarter.
Sehr geehrte Frau Neubert (AN), sehr geehrte Herren Büttner (PB) und Claus (SC), so ein Gespräch beginnt gemeinhin mit einer Vorstellungsrunde. Bitte erklären Sie unseren Leserinnen und Lesern, worum es bei Ihren Projekten geht.
(AN) Das Bündnis „Smart Composites Erzgebirge“ will einen innovationsgetriebenen Strukturwandel im Erzgebirge initiieren. Wir versammeln Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus, der Elektronik und Elektrotechnik, der Textiltechnik, der Kunststoffverarbeitung, der Oberflächentechnik und vieler weiterer Branchen, aber auch Hochschulen und Forschungseinrichtungen unter dem Dach von SmartERZ. Durch deren Zusammenarbeit wollen wir unsere Region zu einem Technologie-Standort für die Entwicklung und Produktion funktionsintegrierter Verbundwerkstoffe gestalten.
(PB) „recomine“ ist ein Bündnis in der Schnittmenge zwischen Ressourcentechnologie, Umwelttechnologie und der Industrie 4.0. Gleichzeitig kümmern wir uns auch um gesellschaftliche Fragestellungen in diesem Umfeld. Wir suchen neue Wege im Umgang mit Bergbaualtlasten. Diese Wege bestehen vor allem in ganzheitlichen Lösungen der komplexen Probleme. Zum Beispiel holen wir aus alten Halden die noch vorhandenen Rohstoffe heraus, beseitigen die Schadstoffe, kümmern uns um die mineralischen Reststoffe. Und das alles mit möglichst geringem Aufwand oder gar einem Wertzuwachs für den Staat beziehungsweise für die Auftraggeber aus der Wirtschaft.
(SC) Unser Bündnis „Smart Rail Connectivity Campus“ versucht so etwas wie die Quadratur des Kreises: Zum einen bringen wir die Digitalisierung im Bahnsektor und den angrenzenden Bereichen der Mobilitätskette voran. Zum anderen nutzen wir den stattfindenden Strukturwandel, um unserer Region einen Mehrwert zu bringen. Wir wollen die Unternehmen aus der Rolle der verlängerten Werkbank in eine Position bringen, in der sie sich mit Forschung und Entwicklung besser am Markt aufstellen können. Ein weiteres wichtiges Thema dreht sich um Ausbildung, Weiterbildung und Studiengänge.
Wir müssen gerade die größte Krise seit Ende des Zweiten Weltkrieges bewältigen. Ist das überhaupt ein guter Zeitpunkt, um sich über Zukunftsfragen zu unterhalten?
(PB) Auf der einen Seite ist die Krise für eine ganze Reihe unserer Partner sehr einschneidend. Einige Unternehmen haben gerade andere Sorgen und können sich nicht so sehr für unsere Projekte engagieren. In der jetzigen Situation werden natürlich auch Ressourcen gebunden, die sonst als Eigenkapital in die Vorhaben geflossen wären. Auf der anderen Seite öffnet die Krise vielen die Augen, was mit Innovation und Digitalisierung alles möglich ist. Ich glaube, darin liegt auch eine Chance. Diese Chance muss man natürlich nutzen.
(AN) Wir können uns ja nicht hinsetzen und einfach warten, dass die Krise vorbeigeht. Wir müssen aktiv sein und weiter an unseren Vorhaben arbeiten. Leider verzeichnen wir einen dramatischen Umsatzeinbruch in der Serienfertigung unserer traditionellen Produkte. Das ist zwar bitter. Wir nutzen aber die Zeit und konzentrieren uns auf die Forschung. Genau die gleiche Tendenz spüren wir übrigens bei unseren Kunden. Auch hier gibt es verstärkte Anstrengungen zur Entwicklung neuer Produkte und Technologien. Alle wollen gestärkt aus der Krise hervorgehen.
(SC) Gerade so eine Krise zeigt doch, dass wir uns dringend über die Zukunft unterhalten müssen. Die Unternehmen, die sich auch bisher schon stark mit Digitalisierung beschäftigt haben, kommen deutlich besser durch diese stürmischen Zeiten. Das betrifft auch große Teile unserer angepeilten Wertschöpfungskette, die ja maßgeblich von Leistungen in Forschung und Entwicklung getragen werden. Einen besonderen Stellenwert hat in dem Zusammenhang mit der Krisenstabilität auch die Arbeit des SRCC zu autonomen Mobilitätssystemen.
Frau Neubert, Automotive-Zulieferer haben in den letzten Jahren große Umbrüche durchlebt. Wie rüsten Sie die KÖSTLER GmbH und ihre Tochterunternehmen für die Zukunft?
(AN) Als Unternehmen müssen wir uns ständig weiterentwickeln, ansonsten werden wir am Markt nicht langfristig erfolgreich sein. Für uns bedeutet das, in die eigene Forschung und Entwicklung einzusteigen. Nur so können wir uns als mittelständisches Unternehmen vom kundengetriebenen Zulieferer zum strukturbestimmenden Unternehmen mit hoher Wertschöpfung entwickeln, uns im Strukturwandel behaupten und innovative Produkte anbieten.
Das Bündnis „Smart Composites Erzgebirge“ bietet uns die Möglichkeit, mit anderen Partnern aus Industrie und Wissenschaft an neuen Ideen zu arbeiten. Wir wollen Materialien herstellen, die die Anforderungen des sich wandelnden Automobilbaues erfüllen. Und nicht nur in diesem Wirtschaftszweig sitzen unsere Abnehmer. Es werden also Verbundwerkstoffe sein, die beheizbar sind oder kühlend wirken, die leuchten oder auch über andere Funktionen verfügen. Und wir werden die Eigenschaften immer zu dem Zeitpunkt und an der Stelle abrufen können, wo wir diese Funktion gerade brauchen. Dabei spielt insbesondere der intelligente Energieeintrag eine große Rolle.
Wir investieren viel in die Forschung und Entwicklung. Im nächsten Jahr werden wir zum Beispiel eine Versuchsanlage bei uns errichten, die das Testen und die Produktion von Prototypen ermöglicht. Schon jetzt interessieren sich große Bestandskunden für das, was wir hier machen und entwickeln. Wir erhoffen uns dadurch natürlich einen Marktvorsprung für die KÖSTLER GmbH.
Ich betrachte das Bündnis als Riesenchance für unser Unternehmen und für die gesamte Region. Im Rahmen von SmartERZ sind inzwischen Einzelprojekte von verschiedenen Teilbündnissen initiiert worden, die innovative Technologien und Materialien entwickeln. Dadurch ist ein Netzwerk von über 160 Partnern entstanden, die voneinander partizipieren, sich intensiv kennenlernen und Synergien schaffen. Mit der durch die Förderung möglichen Forschung und Entwicklung werden viele, viele Impulse gesetzt, die in jedem Fall für die beteiligten Unternehmen und Institutionen und auch für das Erzgebirge insgesamt positive Effekte bringen.
Herr Büttner, bei recomine geht es um die Hinterlassenschaften des Bergbaus. Wie vereinen Sie den riesigen Wissensschatz im Erzgebirge mit innovativen Technologien?
(PB) Unsere rund 70 Partner kommen aus allen Bereichen der Wissens- und Wertschöpfungsketten: Forschungseinrichtungen und Universitäten, wie die Technische Universität Bergakademie Freiberg und das Helmholtz-Institut Freiberg für Ressourcentechnologie, aber auch Bergbau -Unternehmen mit jahrelanger Erfahrung, regionale Anwender der Technologien, Sanierer, innovative Industrieunternehmen und Dienstleister.
Wir haben hier im Erzgebirge die Erfahrungen aus der Bergbauzeit, wir haben die Erfahrungen aus der Bergbau-Sanierungszeit und wir haben das aktuelle technologische Wissen. Wir setzen die Förderung so ein, dass wir für unsere Region einen Mehrwert schaffen.
Bei recomine geht es uns um Technologieentwicklung auf Basis der Bergbausanierung. Ein Beispiel ist die Sanierung von Halden bei gleichzeitiger Gewinnung von Rohstoffen und Entsorgung von Schadstoffen. Diese modellhafte Technologieentwicklung werden wir zur Anwendungsreife führen. Dabei setzen wir stark auf Digitalisierung. Wir schaffen als weiteres Beispiel ein automatisiertes Messnetz für Grubenwässer, das je nach Schadstoffgehalt die Behandlungsart und -intensität dieser Wässer steuert. Generell wollen wir Lösungen schaffen, die durch die Automatisierung wirtschaftlicher werden.
Wir bauen Entwicklungsstandorte auf – alte Gruben oder alte Halden –, wo wir Methoden und Technologien unter realen Bedingungen ausprobieren, Einzelprojekte miteinander vernetzen und Synergien nutzen. Die entstehenden Lösungen werden wir dann international vermarkten.
Herr Claus, Mobilitätskonzepte entscheiden über die Zukunftsfähigkeit einer Region. Warum wurde das Bündnis „Smart Rail Connectivity Campus“ gerade im Erzgebirge etabliert?
(SC) Getragen von der Erzgebirgsbahn – einem Tochterunternehmen der Deutschen Bahn AG – gab es in der Region schon eine ganze Reihe Forschungsprojekte. Die strahlten nicht nur ins Erzgebirge aus, sondern wurden im größeren Kontext gesehen. Auch die Technischen Universitäten in Chemnitz und Dresden, Frauenhofer-Institute und eine ganze Reihe Unternehmen waren schon eingebunden. Und so standen wir vor der Frage, ob man nicht aus dieser losen Zusammenarbeit etwas Größeres und Dauerhaftes machen könnte.
Die Entscheidung für Annaberg-Buchholz hatte dann mehrere Gründe. Zum einen das wirklich außergewöhnliche Engagement der Stadt selbst. Zum anderen der Umstand, dass hier schon einiges an Substanz da war, wie das erste digitale Stellwerk Europas. Darüber hinaus spielte letztendlich auch die enge Verbundenheit mit der regionalen Wirtschaftsförderung über das WIR!-Projekt eine Rolle.
Wir bilden eine durchgehende Kette von der Forschung über die Entwicklung und Erprobung bis hin zum fertigen Produkt. Wir wollen damit einen Beitrag liefern, dass sich Innovationszyklen deutlich verkürzen.
Wenn wir über die Herausforderungen der Digitalisierung sprechen, geht es bei uns um Konnektivität, um die Abdeckung mit dem 5G-Standard oder um die Zugänglichkeit von Mobilitätsketten für die Bevölkerung. Auch Anwendungen der Künstlichen Intelligenz (KI) werden eine große Rolle spielen. Diese selbstlernenden Systeme benötigen wir zum Beispiel bei der Optimierung des Angebotes in Abhängigkeit zum Nutzerverhalten. KI kann eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Autonomen Fahrens auf den Bahnstrecken spielen.
Wir freuen uns im Zusammenhang mit dem SRCC bereits jetzt über erste neue Ansiedlungen in Annaberg durch die DB Netz AG und die Frauscher Sensortechnik. Dieses Unternehmen wird hier ein Entwicklungszentrum aufbauen. Und die Technische Universität Chemnitz wird mit einer Außenstelle nach Annaberg-Buchholz kommen. Inzwischen haben rund 20 Professuren der Technischen Universität Chemnitz ihr Interesse an einer Mitarbeit mit einem LOI (Letter of Intent – Absichtserklärung) bekundet, viele davon wurden bereits in reale Projekte eingebunden.
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Dank Ihrer Bündnisse und Projekte werden innovative Technologien entwickelt. Welche Aspekte stehen neben den wirtschaftlichen noch im Fokus der Aktivitäten?
(AN) Ein Effekt ist, dass im Erzgebirge Arbeitsplätze auf hohem fachlichem Niveau entstehen, wo junge Leute auch ihre schöpferische Kreativität ausleben können. Der andere Effekt ist die Wahrnehmung des Erzgebirges: Wir liefern ja jetzt schon unsere Produkte weltweit. Wenn dazu noch smarte Materialien kommen, werden diese natürlich auch mit dem Namen Erzgebirge verbunden sein und somit zum modernen Image der Region beitragen.
(SC) Neben der Technologieentwicklung und der Anbindung des ländlichen Raumes an die Oberzentren wollen wir auch den Nachwuchs frühzeitig in unsere Arbeit einbinden. Das beginnt schon in den Schulen. Die Schüler müssen für die sogenannten MINT-Fächer begeistert werden – also für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Und, wenn alles gut läuft, bringen wir Studien- und Arbeitsplätze nach Annaberg-Buchholz. Wir animieren Jugendliche dazu, hier zu studieren und später dann in der wissenschaftlichen Arbeit einen hochwertigen Arbeitsplatz zu finden – um einfach hierzubleiben.
(PB) Ich möchte die Aufmerksamkeit auf die Nachhaltigkeit unseres Tuns lenken. Mit recomine beantworten wir Fragen, die in der jeweiligen Region enorme ökologische und gesellschaftliche Probleme berühren. Weltweit sind die Folgeschäden des Bergbaus immens. Im Vergleich dazu ist das Erzgebirge nur eine Art Miniaturmodell. Und dennoch werden viele von unseren Erfahrungen profitieren können. An erster Stelle natürlich das Erzgebirge selbst durch die internationale Vermarktung der hier entwickelten ganzheitlichen Lösungen für Halden, der Erhöhung der Sicherheit in der Region, der Gewinnung von Rohstoffen und dem Flächengewinn auf heimischen Bergbaufolgelandschaften.
Text: Steffen Wollmerstädt
Foto: Erik Wagler | photographisches.com/ThomasKruse | SRCC