"Unser Engel hat keine spitzen Ellenbogen"
Der Oktober ist ein besonderer Monat in der Geschichte von Wendt & Kühn Grünhainichen. Am 1. Oktober 1915 wurde das Unternehmen von Margarete Wendt und Margarete Kühn gegründet. Im Herbst 1954 trat Hans Wendt, er ist am 9. Oktober 1930 als Zwilling geboren, in die Firma ein, die er später übernahm. Am 1. Oktober 1997 erlebte Sohn Tobias nach dem Studium seinen ersten Tag im Unternehmen. 2003 im Oktober wurde die "Figurenwelt" von Wendt & Kühn in Seiffen eröffnet. Im Oktober 2010 bleibt jedoch für eine Jubiläumsfeier kaum Zeit. Die 155 Beschäftigten haben aufgrund der gestiegenen Nachfrage viel zu tun. Gudrun Müller sprach darüber mit Firmenchef Tobias Wendt.
Freie Presse: In Ihrem Verkaufsraum herrschte gerade regelrechter Andrang. Warum sind die Engel auch heute nach 95 Jahren noch so begehrt?
Tobias Wendt: Zu jeder Zeit und unter ganz unterschiedlichen Bedingungen spüren die Menschen tief in sich wohl auch Sehnsucht nach einem Stückchen heile Welt und nach Harmonie. Unser Engel hat keine spitzen Ellenbogen, da ist alles rund und knubbelig. Und Grete Wendt hat wohl bewusst ihren Engeln die Proportionen eines Kindes verpasst. Wer einen Engel kauft, tut etwas für seine Seele.
Freie Presse: Der Urengel von 1912, der bei Ihnen im Büro steht, hat noch nicht elf Punkte als Markenzeichen am Flügel, sondern Sterne. Doch sonst unterscheidet er sich nicht sonderlich von den heute immer noch handgefertigten Engelfiguren. Es ist ungewöhnlich, in unserer sich so rasant verändernden Welt über neun Jahrzehnte einem Produkt so treu zu bleiben.
Wendt: Sicher, aber das ist unser Erfolgsrezept. Unsere Kunden sammeln die Figuren. Und wie die Firma Wendt & Kühn den Engeln treu bleibt, bleiben uns auch die Kunden treu. Die Grünhainichener Figuren seien ein Teil ihres Lebens geworden, steht in einem Brief, den wir aus den USA erhalten haben. Eine Frau aus Ebensfeld in Oberfranken schickte uns zum Jubiläum mit dankbaren Worten 95 Sonnenblumen. Das alles berührt uns, zeigt es doch, wie sich die Menschen mit unserer Arbeit identifizieren und sie schätzen. Freie Presse: Doch Kunsthandwerker und Designer suchen moderne Ausdrucksformen der erzgebirgischen Volkskunst. Auch der Engel wird neu interpretiert. Hat Sie das nie gereizt?
Wendt: Nein. Einiges, was da gemacht wird, gefällt mir, anderes nicht. Aber das ist überhaupt nicht unser Weg. Sicher, auch bei uns gibt es jährlich mehrere Neuerscheinungen. Dabei orientieren wir uns in der Regel an historischen Entwürfen.
Freie Presse: Nicht nur ostdeutsche Firmen, auch in der Welt bekannte Traditionsunternehmen wie Märklin, Schiesser, Schimmel-Klaviere und Rosenthal sind seit 2008 in Insolvenz gegangen. Wendt & Kühn dagegen steht offenbar gut im Geschäft. Doch Ihre Erzeugnisse haben ihren Preis, sie sind schon Luxus. Haben Sie da die Wirtschaftskrise nicht gespürt? Wendt: Wir haben sie nicht so sehr gespürt. Vor etwa sieben Jahren - das war für uns eine schwierige Zeit. Denn der Nachholbedarf im Osten und im Westen war gedeckt. Da ist bei uns nicht nur die Idee für das Haus "Figurenwelt" in Seiffen entstanden, sondern auch für unsere Schautage. Bei der Premiere haben wir mit etwa Tausend Leuten an allen Tagen gerechnet. Tausende waren es an einem Tag. Auch sonst pflegen wir seitdem sehr bewusst unsere Marke. Beispielsweise mit unserer Elfpunktepost, einer Broschüre, die wir zu Tausenden verschicken. Freie Presse: Und der Erfolg dieser Markenpflege?
Wendt: Von unseren limitierten Sondereditionen - der Liebesboten-Engel auf goldenem Sockel ist auf 9999 Stück begrenzt - könnten wir beispielsweise eine vielfache Menge fertigen.
Freie Presse: Aber das ist doch eigentlich gegen alle wirtschaftliche Vernunft: Der Bedarf ist da, und Sie wollen ihn nicht befriedigen?
Wendt: Nur was knapp ist, bleibt das Besondere - wenn da auch manchmal zwei Seelen in meiner Brust schlagen. Aber unsere Engel, die in hoher Qualität und Handarbeit gefertigt werden, zu verramschen, wäre tödlich. Deshalb bekommen Sie unsere Figuren auch nicht überall, nur in besonderen, ausgewählten Geschäften.
Freie Presse: Stichwort wirtschaftliche Zwänge. Kann man sich in Zeiten harter Marktwirtschaft und Konkurrenz noch die familiäre Atmosphäre, für die Ihr Unternehmen auch bekannt ist, leisten?
Wendt: Sicher, manches geht heute nicht mehr. Mein Vater beispielsweise hat in der Werkstatt noch mitgearbeitet. Aber auch ich lege viel Wert auf Miteinander und Motivation. Die Engelberg-Ecken, die wir jetzt neu anbieten, sind der Vorschlag einer Mitarbeiterin.
Freie Presse: Wie konnte eigentlich Ihr Vater in dem ab 1972 verstaatlichten Betrieb weiterhin ausgerechnet Engel in der DDR produzieren?
Wendt: Als eingesetzter Betriebsdirektor musste mein Vater dafür sorgen, dass die Fertigung zu über 90 Prozent exportiert wird, um Devisen für die DDR zu beschaffen. Dadurch ließ man ihn weitestgehend in Ruhe. Außerdem hat er mit viel List, Geschick und Können die Marke gepflegt, so blieben die Buchstaben W & K durch den Namen VEB Werk-Kunst erhalten.
Freie Presse: Das heutige Jubiläum ist Ihr letztes in Grünhainichen. Sie verlassen das erfolgreiche Familienunternehmen zum Jahresende, wollen auch keine Gesellschafteranteile mehr halten. Mögen Sie keine Engel mehr? Wendt: Im Gegenteil, unsere Engel werden weiter bei mir daheim stehen, mich begleiten. Ich bin sicher, dass meine Geschwister Claudia und Florian die Manufaktur Wendt & Kühn im Sinne des Vaters und Tante Grete fortführen. Es wird noch viele Jubiläen der kleinen Engel geben. Quelle: Freie Presse, Ausgabe Zschopauer Zeitung, 01.10.2010