„Die Menschen wird es verstärkt in progressive Provinzen ziehen“
Rauschende Wälder, grüne Berge, malerische Täler: Herr Kammerl, ist das ein Klischee oder doch eine ganz zutreffende Beschreibung des Erzgebirges?
Es ist ein Teil der Realität. Wenn Sie das Klischee vervollständigen wollen, können Sie wahlweise gern noch Bergbau , Weihnachtsland, Volkskunst und Wintersport mit aufzählen – alles Themen, die zurecht mit dem Erzgebirge assoziiert werden, aber vor Ort im 21. Jahrhundert eher einen kulturellen Hintergrund bieten und keine ökonomischen „Brückenpfeiler“ darstellen. Um eine wirklich zutreffende Beschreibung des heutigen Erzgebirges zu erhalten, bedarf es eines weitaus intensiveren Blickes hinter die Kulissen.
Was sind denn die strukturellen Besonderheiten im Erzgebirge?
Das Erzgebirge liegt an der Grenze zu Tschechien, ist in eine Mittelgebirgslandschaft eingebettet und hat in den 1990er Jahren demografische Verwerfungen erfahren. Dennoch sind wir in weiten Teilen immer noch eine dicht besiedelte Region, die sich von vielen anderen „ländlichen Räumen“ in ihrer Siedlungsstruktur maßgeblich unterscheidet. Fusionierte, leistungsfähige Kommunen, über die Jahre stetig ausgebaute Infrastrukturen sowie engagierte Menschen machen das Erzgebirge nach wie vor zu einer lebenswerten Region. Das Merkmal schlechthin ist aber der außergewöhnlich hohe Industriebesatz bzw. die in den letzten Jahren – entgegen dem Deutschlandtrend – sogar nochmals gestiegene Industriearbeitsplatzdichte! Zur Spezifik unserer Wirtschaftsstruktur gehören aber genauso die betriebliche Kleinteiligkeit, die übrigens in Krisenzeiten ein Stabilitätsanker ist, und die montanhistorisch begründete Metall-Dominanz im verarbeitenden Gewerbe.
Was sind die wichtigsten Herausforderungen für die Unternehmen Ihrer Region?
Der aktuellen Priorität nach geordnet würde ich diese Reihenfolge nennen: Corona, Automotive-Strukturwandel, Digitalisierung und der demografische Wandel.
Wie unterstützt die Wirtschaftsförderung den Strukturwandel in der Region?
Das ist ein sehr weites Feld. Da wären zum einen die klassischen Instrumente von Gründungsqualifizierung – zur „Auffrischung“ gewachsener, traditioneller Strukturen – über Fördermittelberatung bis zur Vermittlung von Gewerbeflächen und der Akquise von Investoren. Zum anderen hat zwischenzeitlich die Thematik der regionalen Fachkräftesicherung für Unternehmen nahezu ganz Ostdeutschland mit Ausnahme der Metropolen eingeholt und erfordert eine gezielte und gebündelte Unterstützung. Die jüngste und aktuelle Epoche der Wirtschaftsförderung ist jedoch geprägt von Innovationsunterstützung, um ein qualitatives und nachhaltiges Wachstum der Wirtschaftsbasis unter demographischen Zwängen anzuregen. Neben einzelbetrieblichen Hilfestellungen geht es dabei vermehrt um strategische Projekte, die den branchen-übergreifenden und interdisziplinären Austausch anregen sollen.
Der Fachkräftemangel ist auch im Erzgebirge ein Thema: Was tun Sie und was tun die Unternehmen, um die Fachkräftebasis zu sichern und qualifizierten Nachwuchs zu gewinnen?
Zweifellos reden wir über eine der größten volkswirtschaftlichen Herausforderungen, die einzelne Länder oder Regionen in der jüngeren Geschichte meistern mussten! Vielen ist die Dimension der Aufgabe aber noch immer nicht bewusst – obwohl seit über zehn Jahren bei uns auf zwei Berufsaussteiger nur ein Berufseinsteiger folgt. Insbesondere die seit Mitte der 2010er-Jahre etablierte Fachkräfteallianz Erzgebirge hat viele kooperative Bausteine und Maßnahmen entwickelt, die zusammen „den Schmerz lindern“: Ausbildungsmessen, Woche der offenen Unternehmen, Karriere Dual als Maßnahmen zur Berufsorientierung, Pendleraktionstage zwischen Weihnachten und Silvester, Welcome Center Erzgebirge als Servicestruktur für Rückkehrer und internationale Zuzügler oder auch „CSRnetERZ“ als Unterstützungsangebot zur Qualifizierung der betrieblichen Personalarbeit und des lokalen Engagements von Unternehmen. Und das seit 2008 bestehende Fachkräfteportal Erzgebirge kann in aller Bescheidenheit als Urvater aller ostdeutschen regionalen Online-Jobportale bezeichnet werden. Viele Unternehmen haben zudem in den letzten Jahren ihre Ausbildungsbereitschaft weit über den deutschen Durchschnitt hinaus ausgebaut und die interne Unternehmenskultur mit zeitgemäßen Konzepten wie zum Beispiel New Work attraktiver gestaltet.
Wie können kleine Unternehmen wettbewerbsfähig (und innovativ) bleiben angesichts ihrer geringen Ressourcen für Forschung und Entwicklung?
Ein wesentlicher Faktor, ganz unabhängig von der Unternehmensgröße, wird immer eine der Zeit angepasste Unternehmenskultur sein. Der einzelne, motivierte, kreative und innovationshungrige Mitarbeiter entscheidet, nicht die Größe des Unternehmens. Heutzutage sollten Neugier und Offenheit genauso dazu gehören wie das Online-Netzwerken und die Bereitschaft zu Kooperationen über Betriebsgrenzen und Sektoren hinweg.
Wie können Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen enger mit Unternehmen zusammenarbeiten?
Auch wenn es abgedroschen klingt: Man muss als Hochschule oder Forschungseinrichtung einen Anspruch zur Weiterentwicklung des regionalen Umfeldes definieren, den Elfenbeinturm zielorientiert verlassen und seinen Gestaltungsanspruch verwirklichen. Ein guter Weg ist es, selbst bei regionalen Unternehmen anzuklopfen oder wirtschaftsnahe Multiplikatoren und deren Unternehmensnetzwerke einzubinden. Oder auch ganz bewusst kleine Kooperationsformen zu konzipieren und diese selbst mit Leben zu füllen.
Welche Rolle können Handwerksbetriebe im regionalen Innovationsgeschehen spielen?
Dies ist vor allem abhängig von Gewerk, Größe, Marktposition und Führungskultur des Betriebes. Grundsätzlich gibt es keinen Grund für eine Benachteiligung dieses Sektors. Gerade Handwerksunternehmen verfügen über die notwendige Materialkenntnis und denken viel stärker anwendungsorientiert. Der Schulterschluss mit Hochschulen, Forschungseinrichtungen und innovativen Unternehmen wäre nur konsequent, ist aber mitunter noch eine Frage der Generation.
Zu welchem Zeitpunkt werden Sie bei einem neuen Förderprogramm aktiv und wie bringen Sie die richtigen Partner zusammen?
Hier muss man zunächst differenzieren. Richtet sich das Programm auf ein Einzelunternehmen oder auf einen Forschungs- oder Unternehmensverbund? Wir warten deshalb die Veröffentlichung der Förderrichtlinien ab, um angemessen agieren und vernetzen zu können. Bei Ausschreibungen, die auf die Bildung strategischer Netzwerke und Strukturen zielen, ist politisches Detailwissen zur Entstehungsgeschichte für uns oftmals hilfreich, um frühzeitig die richtigen Weichen für die passenden Partner zu stellen.
Finden sich bei einem Förderprogramm automatisch die richtigen Partner und welche Rolle können Sie hier übernehmen?
Selten ist das ein Automatismus. Oftmals wird übersehen, dass die hinter Förderprogrammen stehende thematische oder politische Gestaltungsabsicht erst bei potenziellen Bewerbern vermarktet werden muss. Die Hauptaufgabe einer gut organisierten Wirtschaftsförderung ist es, politische Förderangebote stetig mit den Erfordernissen vor Ort abzugleichen. Die Programmfamilie „Innovation & Strukturwandel“ ist das perfekte Beispiel dafür!
Austausch, Vernetzung, interdisziplinäre Zusammenarbeit sind Schlüsselbegriffe, um die Innovationsfähigkeit einer Region zu verbessern: Was kann die Wirtschaftsförderung hier tun?
Zunächst gilt es, verschiedene Formen der Kommunikation aufzubauen und diese Formate dann zu pflegen. Präsenzveranstaltungen – wenn möglich in Unternehmen vor Ort – werden immer die Vorzugsvariante bleiben, aber man muss ganzheitlich herangehen. Dazu zählen auch Innovationsnetzwerk-übergreifende Online-Plattformen wie www.innovERZ.de und die strategische Pressearbeit und Kommunikation durch die regionale Wirtschaftsförderung.
Sind Ihre Ansätze auf andere Regionen übertragbar?
Sicherlich. Voraussetzung ist zunächst ein ehrliches Gesamtverständnis über die vorhandenen und vor allem die notwendigen Ressourcen und Strukturen. Die Wirtschaftsförderung Erzgebirge GmbH erhält vom Landkreis einen Zuschuss von ca. 300 Tausend Euro im Jahr. Durch engagierte Mitarbeiter und u. a. deren akquirierte Förderprojekte erwirtschaften wir regelmäßig eine Gesamtleistung von über 2 Millionen Euro jährlich, d.h. die Wirtschaftsförderung rechnet sich. Das im Erzgebirge seit vielen Jahren aufgebaute Geflecht aus strategischer Projektarbeit, Serviceleistungen und Vermarktung für eine Region, die eine starke Identität besitzt, setzt Maßstäbe - aber ist bestimmt auch auf andere Ausgangslagen erfolgreich anwendbar.
Stichwort „Innovation & Strukturwandel“: Das Förderprogramm WIR! will auch innovationsunerfahrene Akteure einbinden. Wie kann das gelingen?
Es mag vielleicht banal klingen, aber aus unserer Erfahrung geht es vor allem darum, keine unnötigen Netzwerk-Einstiegshürden aufzubauen. Und gerade im Erzgebirge, wo jeder quasi jeden kennt, gilt die Faustregel: Authentische regionale Unternehmen, die für erfolgreiche Innovationsnetzwerke stehen, sind wichtige Vorbilder.
Sie steuern als Wirtschafsförderung das WIR!-Bündnis „SmartERZ“ mit über 160 Partnern. Wie funktioniert die Koordination eines solch großen Bündnisses in der Praxis?
In unserem Fall ziemlich einfach, weil wir keine unnötigen vertraglichen Bindungen konstruiert haben und keinen unverhältnismäßigen administrativen Überbau aus dem Bündnis finanzieren müssen. Über eine intelligente Integration in die vorhandene, landkreiseigene Wirtschaftsförderungs-GmbH können wir maximale Synergien ausschöpfen.
Inwiefern verfolgen die drei WIR!-Bündnisse, an denen Sie beteiligt sind, unterschiedliche Ansätze?
Sie unterscheiden sich sehr deutlich: das Bündnis „rECOmine“ entwickelt an alten Bergbaustandorten des Erzgebirges neue Lösungen zur Beseitigung von Altlasten und Umweltrisiken. Wissenschaftler und Ingenieure – auch aus dem Ausland – stemmen gemeinsam Forschungs- und Entwicklungsprojekte, die auch mit perspektivischen Folge-Investitionen verbunden sind. „SmartRail“ hingegen nutzt eine unausgelastete und teure Bahnstrecke und ist gleichsam ein riesiger Investitionsmagnet, etwa in Bezug auf die Streckeninfrastruktur, das Bahnhofsgebäude und die Forschungshalle in Annaberg-Buchholz . So wird das Bündnis dazu beitragen, dezentrale Strukturen der TU Chemnitz und Niederlassungen von internationalen Konzernen anzusiedeln. Und mit „SmartERZ“ schließlich wollen wir vorhandene Kompetenzen der regionalen Industrie für den globalen Wachstumsmarkt der Smart Composites nutzen und weiterentwickeln. Hier gibt es große Synergiepotenziale! Bei allen Unterschieden haben die drei WIR!-Bündnisse aber auch eine Gemeinsamkeit: die für die Region maximale Breitenwirksamkeit.
Das Erzgebirge erfindet sich seit 800 Jahren immer wieder aufs Neue: Wie geht das?
Bergbau, Bodenständigkeit und der Ehrgeiz der Erzgebirger*innen lassen diese seit Jahrhunderten immer zuerst nach gemeinsamen Lösungen für die Region suchen. Ein Leben unter erschwerten und sich stets wandelnden Bedingungen aus dem Bergbau heraus ist noch heute Basis für den starken Zusammenhalt – in Verbindung mit unserer „Gedacht.Gemacht.-DNA".
Wie wird sich das Erzgebirge in zehn Jahren verändert haben? Was ist Ihre Prognose/Vision?
Der Bevölkerungsrückgang wurde gestoppt. Die Zulieferindustrie hat sich neben klassischen Metallteilen für die Automobilbranche neue Märkte erschlossen, z.B. für Baugruppen in der Medizintechnik-Branche. Parallel dazu ist das Erzgebirge als Forschungsstandort für internationale Wissenschaftler und industrienahe Dienstleistungsunternehmen etabliert. Menschen zieht es wieder verstärkt in „progressive Provinzen“ – eine davon ist das Erzgebirge.
Jan Kammerl ist Leiter des Geschäftsbereiches Wirtschaftsservice/Fachkräfte bei der WFE - Wirtschaftsförderung Erzgebirge GmbH. Im Team der Wirtschaftsförderung unterstützt er die drei vom BMBF geförderten und völlig unterschiedlich auf die Region einwirkenden WIR!-Bündnisse „rECOmine“, „SmartRail“ und „SmartERZ“. Bei letzterem ist die WFE GmbH als Konsortialführer in Hauptverantwortung.