18.03.2025
Von der Frankfurter Metropole hinein ins Paradies
„Anfangs habe ich hier nicht schlafen können: Weil es so leise ist. Wenn ich heute bei meiner Mutter in Frankfurt am Main bin, ist es genau andersherum.“ Wenn man auf dem Hof von Familie Jung am Rand des Ortes steht, weiß man gleich, was dieser Satz meint. Hinter den noch unsanierten Mauern des Hauses erstreckt sich eine weite Wiese, gesäumt von Obstbäumen, den Hang hinauf. Auf der saftigen Koppel laben sich der jüngste Zuwachs der Familie: Pony Milan und ein paar Ziegen – die einzigen, die morgens manchmal vor sich hinmeckern. Nur tagsüber, da übertönt Baulärm die Töne der Natur , denn das wahrscheinlich einst älteste Haus und Grundstück von Grünstädtel – von der Kirche abgesehen – wird von den ehemaligen Hessen einmal komplett auf den Kopf gestellt.
„Wenn 2014 jemand gesagt hätte: Du wirst in zehn Jahren im Erzgebirge leben, hätte ich laut gelacht“, erzählt Johannes. Für seine Frau Evelyn war das Erzgebirge kein wirklich schwarzer Fleck auf der Karte. Sie ist in Frankfurt geboren und aufgewachsen, trägt aber erzgebirgische DNA in sich. Ihr Vater ist gebürtiger Schwarzenberger. Er war es, den es 2016 zurück in die alte Heimat zog. Beim ersten Besuch schlug Johannes vor: „Lass und doch auch hierbleiben.“ Mit einem BWL-Studium in Zwickau tastete sich Evelyn an die Region heran, ein Abschluss an der BA Breitenbrunn in Sozialer Arbeit folgte. Der Gedanke an einen Neuanfang im Erzgebirge kreiselte und plötzlich war die Idee da: Heu machen, Lebensmittel anbauen – das wär´s. Und das stand im völligen Kontrast zu ihrem Leben in der Metropole, die immer größer und lauter wurde. Mehrere tausend Menschen hätte Frankfurt in den letzten Jahren gewonnen, erzählen sie. Und immer mehr Distanz zwischen den Menschen, welche auf so engem Raum, jeden Tag nebeneinanderher leben, wurde spürbarer. Mit Glück kannten sie 2 von 17 Mietern – heute dafür die ganze Dorfstraße. „In was für einer Menschenmenge und Anonymität wir täglich selbst unterwegs waren, war uns damals gar nicht bewusst.“
Verwunschene Idylle mit Abenteuerpotenzial
Ein schmaler, steiler Weg führt von der Straße auf den Hof, den Evelyn und Johannes seit 2022 ihr Eigen nennen: Ein Wohnhaus, von dem der Putz blättert mit einem Anbau, der einst ein Stall war. Gegenüber eine große Scheune aus Holz, die vollgestopft ist mit Dingen, die man zum Bauen braucht. Nur in einer Ecke schlummert verborgen hinter Materialbergen ein vierrädriges Schmuckstück, für das Johannes aktuell keine Zeit bleibt. Hinter dem Hof präsentiert sich ein echtes Paradies: Weite, Freiraum auf Wiesen und Feldern – und ein Blick über den Ort, der irre schön ist. Fünf Jahre suchte das Paar nach einer Immobilie mit Landanteil, auf der auch Evelyns Pferde und zwei Hunde Platz haben sollten. „Als ich über Buschfunk gehört habe, dass hier verkauft werden soll, bin ich einfach hin, hab geklingelt und gefragt, was dran ist“, so Evelyn, die weiß, dass so etwas auf diesem Weg nie in einer Stadt funktionieren würde.
Wir haben absolute Freiheit hier in allem, wie wir leben wollen und sein möchten.
Bis sich Evelyn und Johannes auf einer Bank ausruhen können, gibt es viel zu tun. Sie denken in einem Horizont von zehn Jahren, manchmal auch nur von Tag zu Tag. Mit Hausmauern, die seit etwa 500 Jahren stehen, gleicht die Sanierung einem Abenteuer. Und manchmal auch einer Zeitreise. Allein die 17 Schichten Tapete in unterschiedlichsten Mustern und Farben sind ein historischer Abriss von Einrichtungsstilen. Unter den alten Holzdielen offenbaren sich kleine Schätze der ehemaligen Bewohner wie Spielkarten, die in die Ritzen gerutscht sind. Und auch manch kleines Felltier ist irgendwann in die Falle der Gemäuer geraten und fand den Weg nicht mehr heraus ... Eine große Portion Idealismus braucht es, um konsequent am Traum festzuhalten. Und viel Fantasie, die als Geländer für jeden einzelnen Schritt am Bau dient. „Wir haben bisher einige Container hier rausgebracht“, erzählt Johannes und auch, dass sie dafür allein das Doppelte finanziert haben als einkalkuliert.

Über Jahrhunderte gewachsen: Altersstarrsinn
Aktuell bewohnt die Familie die obere Etage im Haus. „Als wir das Haus übernahmen, sah es nach 20 Jahren Stillstand verwunschen aus. Aber beim näheren Betrachten auch runtergekommen, überall regnete es rein, der Wein wuchs bis in den Dachstuhl“, erinnern sich beide. Dennoch: In Frankfurt hätten sie zum gleichen Preis eine Zweizimmerwohnung bekommen. Dafür nehmen sie gern in Kauf, dass der Hof eine lebenslange Baustelle sein wird. Die Arbeitsteilung der beiden ist ganz klar: „Evelyn wünscht sich was und ich setze es um“, meint Johannes augenzwinkernd. Stimmt nur zum Teil, denn meistens werkeln sie gemeinsam bis spät in den Abend, wenn der Junge eingeschlafen ist. Gerade wird der alte Schweinestall zur großen Garage umgebaut. In ihr wird auch der Fuhrpark an bunten Baufahrzeugen des Sohnes Platz finden. Das, was geht, machen sie selber, oft mithilfe treuer Freunde, die sie hier schnell fanden – und in enger Absprache mit den Handwerkern, deren Gewerke sich fachlich anschließen. Sie träumen von einem offenem, lichtdurchflutetem Raumkonzept in einem Mix aus neuem und altem Interieur. Nur manchmal müssen sie Abstriche machen – es ist eben ein altes Haus mit eigenem Altersstarrsinn, wie sie die schiefen Wände liebevoll nennen. Das Ehepaar sieht den Ausbau sportlich, im wahrsten Sinne. „Ich bekomme hier immer den Schrittzähler voll.“
Leben in Parallelwelten: Firmengründung, Hausbau, Eltern sein
Ein Hausbau allein reicht für ein hohes Stresslevel – könnte man meinen. Evelyn und Johannes aber gründeten erst vor zwei Jahren zudem ein Unternehmen und wurden Eltern. hERZhelfer Erzgebirge heißt die Firma, die für Sozialpädagogin Evelyn ein Herzensprojekt ist. Sie betreut Familien in schwierigen Situationen. Johannes, der neben seinem erlernten Metall-Handwerksberuf einen betriebswirtschaftlichen Abschluss hat, ist der Partner für alles rund um Büro und Organisation. Mit dem Unternehmen wollen sie gesund wachsen, nach und nach Fachkräfte einstellen. Seit 2024 sind sie Praxispartner für die Berufsakademie Breitenbrunn, wo einst Evelyn selbst studierte. Die Büroräume sollen mit als erstes im Haus bezugsfertig sein.
„Normale Tage gibt es bei uns schon eine Weile nicht mehr. Aber eine feste Regel: Einmal am Tag wird gemeinsam gegessen und eine Abendrunde mit den Hunden gelaufen“, verrät Evelyn. Es sind die Augenblicke, in denen die ehemaligen Großstädter die Landidylle genießen. Oder beim Rausbringen der Mülltonne, wo man sich mal eine Stunde mit den Nachbarn verquatscht. Unvorstellbar in der Stadt: aufeinander aufpassen in der Nachbarschaft, Hilfe bekommen von bodenständigen, herzlichen Menschen beim Bau, die Nachbarin, die die Hunde für einen Spaziergang holt, ja, auch das Gefühl der Sicherheit, wenn man abends im Dunkeln draußen ist: „Das klingt alles sehr klischeebehaftet, aber genauso empfinden wir das hier.“

Fast Food und Shopping: Der Traum vom Hof siegt
Kommt das Gespräch auf die Dinge, die sie im Erzgebirge aus ihrer Stadt vermissen, entspinnt sich bei dem Paar schnell eine amüsante Uneinigkeit. „Ich bin gerne in der Stadt und genieße das Shoppen, mich nervt das Online-Kaufen so“, meint Evelyn. Johannes: „Nee, so gar nicht. Ich mag keine vielen Leute mehr um mich herum. Ich vermisse richtig gutes Fast Food.“ ... was Evelyn mit einem langen: „Eeeeecht? Das fehlt dir?“ quittiert. Am Ende des Tages sind sie sich aber in einem Punkt eins: „Wir haben absolute Freiheit hier in allem, wie wir leben wollen und sein möchten.“ Gerade auch für ihren kleinen Sohn sehen sie das Leben im Erzgebirge als echten Gewinn. Wie ihr Sohn sich in Frankfurt entwickelt hätte – die Frage stellen sie sich manchmal, dennoch nie ernsthaft.
Fakt ist aber, dass der Spross der Familie Jung in einer großartigen Dorfgemeinschaft zwischen Pferden, Hunden und Hühnern groß wird. „Wenn er am Ende des Tages vollkommen verdreckt, aber glücklich nach Hause kommt, haben wir unseren Job als Eltern richtig gemacht“, sagen sie beide und Evelyn fügt hinzu: „Natürlich zweifeln wir öfter, als dass wir uns sicher sind, ob die Kraft reicht, alle Träume umzusetzen. Aber wenn ich morgens in der Stille hier meinen Kaffee trinke und auf den Hof schaue, werden die Stimmen um mich herum leiser, die Zweifel verschwinden. Und dann bin ich dankbar, unserem Jungen ein Leben zwischen Apfelbäumen und Baufahrzeugen zu ermöglichen.“

Text: Sabine Schulze-Schwarz
Fotos: Celina Cäcilia Schubert