19.11.2024
Ein Refugium im Erzgebirge
*Refugium: Zufluchtsort eines Individuums. Die Definition des Wortes ist kurz. Das, was sich dahinter alles verbergen kann, beschreibt sich schwer in einem Satz. So verhält es sich auch mit dem „Refugium Erzgebirge e.V.“ in Raschau. Getreu seinem Motto „Wir bringen Generationen zusammen“ bietet er ein Dach, welches unter anderem eine Zuflucht bei Einsamkeit sein kann. Aber auch Hilfe zur Selbsthilfe, Wissensvermittlung, Optimismus und Weg in die Zukunft. Wenn Vorsitzende Ina Heßelbarth zu erzählen beginnt, spürt man, dass noch viele Ideen in die Tat umgesetzt werden wollen. Und wenn man bei einer Stippvisite sieht, wie Kinder und Frauen gemeinsam nähen, weiß man, der Plan wird aufgehen.
Der Ort: ein bisschen wie nach Hause kommen
Ein typischer 70er-Jahre Block in einem Wohngebiet am Rande von Raschau. Eine der unteren Wohnungen ist das Domizil des Vereins Refugium Erzgebirge e.V., der sich im Januar 2023 gegründet hat. Steht man vor der Wohnungstür und klingelt, fühlt es sich an, als ob man jemanden besuchen geht. Ina Heßelbarth öffnet lachend die Tür und tatsächlich: ein Flur, Küche, Bad, Büro und ein großes Wohnzimmer mit Couch, Spielecke, Bücherregal und einem langen Tisch, der förmlich gemacht ist für Spieletreffs, Kreativnachmittage, Skatrunden und Gespräche zum aktiven Austausch – oder Nähnachmittage so wie heute. Die Nähmaschinen, Schnittmuster, Stoffe, Nadeln, Bandmaß: heute sieht es im großen Wohnzimmer aus wie in einer Schneiderei. Die neunjährige Magdalena fädelt gerade geschickt den hauchdünnen Faden in eine Nadel ein. Ina Döring sitzt vor der Nähmaschine und sagt: „So gut wie Magdalena sehe ich das nicht mehr. Das Motto – Wir führen Generationen zusammen – funktioniert hier super.“ Die Hobbyschneiderin möchte Magdalena helfen, einen Beutel weiter zu nähen. Das Mädchen hat über ein Ganztagsangebot in der Schule zu dem Hobby gefunden und kommt regelmäßig ins Refugium. „Dass sich hier Jung und Alt helfen, das gefällt mir am besten.“ Und immer wieder hört man von den Nähplätzen: „Ina, kommst du mal? Ina, hier ist eine Naht komisch ...“ Gemeint ist die andere Ina – Ina Heßelbarth, die als gelernte Maßschneiderin und Kopf des Refugium an diesem Nachmittag ganz in ihrem Element ist und von Platz zu Platz wirbelt.
Da sitzen Leute hier an einem Tisch, die würden sonst niemals zusammenkommen
Die Idee: auf die Urform des Lebens besinnen
„Mein Wunsch ist es, Jung und Alt zusammenzubringen. Die Frische der jungen Menschen mit der Erfahrung der alten Leute zu vereinen entspricht der Urform des Lebens. Für die Gesellschaft ist es schade, wenn die Altersgruppen getrennt werden und immer weniger Berührungspunkte haben“, erklärt Ina Heßelbarth. Auch wenn es manchmal eine Herausforderung sei, Begegnungen zu schaffen. Durch die unterschiedliche Prägung der einzelnen Generationen gebe es mitunter auch Reibungspunkte, Kommunikationshürden. Dennoch überwiegt diese gute Erfahrung: „Da sitzen Leute hier an einem Tisch, die würden sonst niemals zusammenkommen – und öffnen sich und ihre Herzen.“
Den Verein, dessen Unterstützer immer mehr werden, nennt Ina Heßelbarth „ihr Baby“. Entstanden ist die Idee ursprünglich aus eigenem Bedarf. Das war 2021, als Ina alleinerziehend war und mit dem Sohn in einer kleinen Wohnung lebte: 50 qm, mit einem Wohnzimmer, das zugleich ihr Schlafzimmer war. Der Wunsch nach mehr Ausleben ihrer Kreativität – zum Beispiel beim Umgestalten alter Möbel – wurde immer größer. Das Risiko einer eigenen Immobilie wollte sie nicht eingehen, trotz gutem Einkommen als Fachfrau im Versicherungsvertrieb. Ihr Gedanke war: Es gibt doch bestimmt Leute, denen es ähnlich geht, warum sich also nicht zusammentun. Vielleicht auch welche, die viel Platz haben und wo man sich in einer Wohngemeinschaft ergänzen könnte – so, wie das früher gut funktionierte. Sie startete mithilfe von Bekannten eine Umfrage in der Region, wie groß das Interesse an alternativen Wohnformen sei.
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Die Zeit: wenn aus einem neuen Wohnort Heimat wird
Der Schritt für ein Mehrgenerationen-Wohnprojekt war noch nicht reif, aber die Umfrage zeigte: Das Interesse an einem Ort, wo sich Menschen treffen können, ist da. „Da spürte ich: Hier will was auf die Welt“, so Ina Heßelbarth. Vielleicht war das so, weil die gelernte Schneiderin aus Gera im Alter von 22 Jahren aus einer kleinen „Großstadt“ der Liebe wegen nach Markersbach zog – weg von dem Ort, in dem sie sozial sehr eingebunden war und hin in den Erzgebirgsort, in dem sie sich damals noch ohne Job und eigenes Auto tagsüber lebendig begraben fühlte. Das ist 17 Jahre her. Eingebunden ist sie längst hier im Erzgebirge wie eine Einheimische, entschied sie sich doch 2016 bewusst dafür, nach der Scheidung zu bleiben und nicht wieder nach Thüringen zurückzugehen, weil „Heimat“ nun hier ist.
Und jetzt möchte ich meine Lebenszeit mit Dingen verbringen, für die ich brenne
, begründet Ina Heßelbarth den Schritt weg vom sicheren Job in der Versicherungsagentur.Im Juni 2023 stellte der Verein einen Förderantrag beim Freistaat zur Einrichtung von „Orten für Demokratie und Gemeinwesen“ – ein Förderprogramm, das für das Refugium maßgeschneidert scheint. Was ursprünglich u.a. als Vermittlungsstelle für Patenschaften zwischen Jung und Alt gedacht war, bekommt nun für das eingereichte Konzept den Zuschlag und die Möglichkeit, sich auch räumlich zu entfalten.
Die Energie: der Wald als Refugium und Ideengeber
Für Ina Heßelbarth selbst ist die Liebe zum Handwerk immer ein wichtiges Standbein gewesen. In ihrer kleinen, gewerblichen Schneiderei, integriert im Refugium, ist die Nachfrage groß. Es gibt kaum noch Schneiderinnen und Schneider, viele gehen bald in Rente. Daher möchte ich die Schneiderei ausbauen, irgendwann vielleicht sogar ausbilden,“ so Ina Heßelbarth.
Kreativität zieht sich wie ein roter Faden durch Inas Leben und Visionen, weitere Ideen umzusetzen gibt es einige. Bis manche reif sind, vergehen aber noch einige Spaziergänge mit ihrem Hund im Wald. Denn dieser ist ihre Energiequelle, ihr Zufluchtsort, ihr persönliches Refugium. Und mit der begonnenen Ausbildung zum „Waldbaden“ möchte sie diese wertvollen eigenen Erfahrungen bald fachlich fundiert mit ihren Besuchern im Refugium in Raschau teilen.
Text: Sabine Schulze-Schwarz
Fotos: Sabine Schulze-Schwarz