30.05.2022
Vom Kitt der (Stadt-)Gesellschaft und welche Rolle Kinder dabei spielen.
Montagnachmittag. Eine Woche nach der Bundestagswahl 2021, dem Sonntag, an dem zeitgleich die Wahl des Thalheimer Kinderbürgermeisters stattfand. Deshalb hat sich eine besondere Runde zum Tischgespräch eingefunden. Erstmals mit von der Partie ist die frisch gewählte Kinderbürgermeisterin Alessia Meischner. Sie trifft unter anderem auf ihre bisherigen Amtsinhaberinnen Nikita Ihle und Josy Mohr. Ab 1. Januar 2022 übernimmt die Neunjährige samt ihren Stellvertretern die Arbeit. Alle drei sind zwar das Parade-, aber nicht das einzige Beispiel dafür, wie es gelingt, ein Miteinander vor der eigenen Haustür zu gestalten.
Thalheim hat Schlagzeilen gemacht
Angekurbelt hat diese Art der Kinderbeteiligung Nico Dittmann, Bürgermeister der knapp 6.000 Einwohner zählenden Stadt im Zwönitztal, mit seinem Team um Sylvia Schlicke. „Warum wir das Ganze gewagt haben? Wir hatten 2019 für 18 Stadtratssitze nur 21 KandidatInnen. Das kann es doch nicht sein, was man landläufig unter Demokratie versteht. Wie bekommen wir Leute dazu, mitzumachen? Erwachsene ‚kriegt‘ man in der Regel nicht mehr. Viele haben den Kanal voll von Politik; denken, es bringt nichts. Deshalb sind wir auf die Grundschulkinder zugegangen – vor der Pubertät. Denn mit dem Beteiligen ist es wie mit dem Sport: Wenn man einmal dabei ist, wie zum Beispiel beim Fußball oder Ringen, dann gehört das eben einfach dazu“, berichtet er mit einem gewissen Stolz. Thalheim war mit seinen KinderbürgermeisterInnen sächsischer Vorreiter. Die Initialzündung kam von der fränkischen Partnergemeinde Markt Roßtal.
Kinderbürgermeister zu sein, bedeutet, sich zu trauen, seine Position zu vertreten, andere Ansichten zu hören, vor Erwachsenen zu sprechen, sich abzustimmen und manchmal auch den Mittelweg zu finden. Auf die Frage, ob sie ernst genommen wurden, sagt die 12-jährige Josy: „Absolut. Außerdem sind ganz viele kleine Dinge passiert. Deshalb ist es schön, dass es mit dem Projekt ‚Kinderbürgermeister‘ weitergeht und das Amt nicht einfach abgeschafft wird.“ Wie ihre Partnerin Nikita ist sie auf eine weiterführende Schule gewechselt und konnte nicht noch einmal zur Wahl antreten.
Demokratie bedeutet auch, den Verzicht zu lernen und sich auf Alternativen zu einigen
So sieht es das Projekt „Demokratie in Kinderhand“ vor, das zur Kinderbeteiligung im Ort aufruft. Die Eigendynamik, die das Projekt entwickelte, „hat keiner so kommen sehen. Als 2019 die UN-Konvention der Kinderrechte 30 Jahre alt wurde, waren unsere Kinderbürgermeisterinnen auf einmal begehrte Interviewpartnerinnen. Spiegel online, ZDF-Länderspiegel, der WDR, die Geolino – sie waren alle da. Mit dieser Öffentlichkeit muss man erstmal umgehen“, fasst Sylvia Schlicke, Quartiersmanagerin von Thalheim, zusammen. Sie hat in Sekretärinnenmanier ihren „Chefinnen“ den Rücken freigehalten, deren Termine koordiniert, sie vor Überbelastung geschützt und das „Warum“ ihres Tuns vergegenwärtigt. Sie ergänzt: „Nehmen wir die Baumpflanzaktion 2019. Die Idee ist das eine, die Umsetzung das andere.“
Schulwald. Spielplatz. Sitzsäcke
Im August 2018 fegte „Fabienne“ über das Erzgebirge . Das Sturmtief durchzog als Windhose die Region Stollberg . In Thalheim wütete es unter anderem im Ausflugsgebiet „Rentners Ruh“. Von der einstigen Idylle blieb ein Trümmerfeld zurück. Um ein Gelände von 100 mal 100 Metern wieder zu begrünen, fasste der Kinderstadtrat – die KlassensprecherInnen der örtlichen Grundschulen – den Aufforstungsbeschluss. „Einhundert bis zweihundert Bäume waren für uns reserviert. Das war richtig schwere Arbeit. Echt anstrengend. Denn die Setzlinge mussten schnell in die Erde. Ohne den Sachsenforst und die Eltern ging das nicht. Alleine hätten wir das nie geschafft“, schildert Nikita die Aktion. „Deshalb heißt die Fläche jetzt Schulwald.“
Wie wird eine Stadt zur Heimatstadt? Sie muss die Kinderperspektive einnehmen, fragen, was der jungen Generation wichtig ist. „Nennt uns eure Wünsche. Miteinander sehen wir, was geht und was nicht. Das war immer der rote Faden. Demokratie bedeutet auch, den Verzicht zu lernen und sich auf Alternativen zu einigen“, fasst Dittmann zusammen. Wieder und wieder war das stillgelegte Freizeitbad ein Thema. Modernisieren und wiedereröffnen – zu kostspielig. „Klar, waren die Kinder enttäuscht. Doch sie warfen nicht hin, sondern verstanden, wo sie mitgestalten können.“
Die Erwachsenen dachten, das wären coole Sitzgelegenheiten für uns. Wir haben gesagt, das ist Unsinn.
Der neugestaltete Drei-Tannen-Spielplatz als Trostpflaster? Keinesfalls. Eher ein Expertenprojekt, weil eben Kinder am besten wissen, wie und womit sie sich austoben wollen. „Dann wollte die Stadt im Schulhof Holzbretter auf Treppenstufen montieren. Die Erwachsenen dachten, das wären coole Sitzgelegenheiten für uns. Wir haben gesagt, das ist Unsinn. Sitzsäcke sind viel besser. Die konnten wir dann auch kaufen“, schmunzeln Josy und Nikita. Machen statt meckern eben.
Vom Kitt der (Stadt-) Gesellschaft
All dem Positiven stellt Nico Dittmann die Situation gegenüber, die er als damals jüngster Bürgermeister Sachsens zum Amtsantritt 2013 vorfand. „Thalheim war zerstritten in der Struktur. Mir, als Kind der Stadt, tat es wirklich weh, wie schlecht hier alles geredet wurde. Anscheinend gehört es zur erzgebirgischen Art, vieles vorauszusetzen und das Gute nicht hervorzuheben. Nichts gesagt, sei wohl Lob genug. Dabei haben wir viel mehr Macher als Meckerer, die in Eigenregie loslegen.“
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Er meint damit die ca. 40 örtlichen Vereine. Von ihnen habe die Stadt einiges gelernt: Einfach die Ärmel hochkrempeln, das Ergebnis vor Augen haben und keine Ruhe geben. Holger Hähnel, Vorsitzender des Thalheimer Ringervereins e. V. erzählt, wie sich der Verein eine „heruntergekommene Stadtimmobilie gekrallt und binnen neun Monaten eine eigene Trainingshalle hineingebaut“ hat. „Über 100 Helfer, Unternehmen und Spender haben das Mammutprojekt unterstützt. Und, 3.000 ehrenamtliche Arbeitsstunden sind kein Pappenstiel.“ Die Ringer stehen exemplarisch für die Hands-on- Mentalität derer, die sich engagieren. Ob im Seniorenbeirat, der Stiftung „Tholm“, der Crowfundingkampagne „Brunnen für den Buntsockenpark“ oder der Bewirtschaftung des Waldstadions durch den SV Tanne oder der Rentnersruh durch den Heimatverein – es geht um das Lebensgefühl, mitgestalten zu können.
Text: Beatrix Junghans-Gläser
Fotos: Erik Wagler