25.01.2022
Warum ein Bauernhof und Zukunftsideen so gut zusammenpassen.
Was hat ein Bauernhof mit Industriestahlbau zu tun? Welchen Ursprung hat eine Idee? Und wie funktioniert ein Gebäude, zu dem kein einziges öffentliches Stromkabel führt?
Makers Day 2021. Rund 100 Macher aus dem Erzgebirge treffen sich zum kreativen Austausch im ehrwürdigen Ambiente des Auer Hammerherrenhauses. Auf der Bühne Roger Herold und seine Frau Ines. Sie stellen ihr Projekt Land.Leben 4.0 vor, das unter dem Namen Terra.Ursprung verwirklicht wurde. Die Fragen kreisen um Hühner und Schafe, Obst und Gemüse, Traktoren und Scheunen – so, wie man sich einen Bauernhof eben vorstellt.
Das gibt es auch alles auf dem Landgut Ursprung – und doch ist es ganz anders als auf einem „normalen“ Hof. Ein modernes Gebäude, das von außen ein bisschen an ein traditionelles Fachwerkhaus erinnert, aber doch mit sämtlichen Regeln bricht. „Schräg gedacht“, lautet das Motto, von dem Ingenieur Roger Herold sich beim Bau leiten ließ – und er nahm es wörtlich. Denn das Dach ist tatsächlich schräg. So wie das ganze Haus. „Es gibt hier keinen einzigen rechten Winkel“, schmunzelt der Stahlbauexperte, als ich gemeinsam mit ihm um das Gebäude herumstreife.
Denn das, was die Herolds hier in den letzten zwei Jahren entwickelt haben, hat die Welt so noch nicht gesehen.
Man kann es sich kaum vorstellen, wenn man nicht selbst einmal dringestanden hat. Eine ergreifende Erfahrung. Denn im Innenraum erwartet uns nicht etwa das urige Ambiente eines Bauernhauses mit niedrigen Decken und winzigen Fenstern, sondern wir stehen in einer bis oben hin offenen Halle – fast wie in einer Kirche. Keine Zwischendecke, keine Stütze, kein Balken stören das erhabene Gefühl.
Ein „Fachwerkhaus“ aus Stahl
Möglich macht das eine Stahlkonstruktion, wie man sie von Industriehallen kennt. Im Stahlbau ist Roger Herold ein weltweit gefragter Experte. Nun hat er sein Knowhow in seinen Vierseithof einfließen lassen. Und da geht noch mehr: zum Beispiel bei der Fassade. Fenster sucht man vergeblich – und doch ist der gesamte Saal hell und lichtdurchflutet. Unter einer ländlich-rustikalen, offen gestalteten Holzverlattung ist die Fassade mit transparenten Elementen verkleidet, wie man sie ebenfalls im Industriebau findet. Stahlbau trifft Landleben – so schick kann es sein.
Auch in Sachen Energie kennt Roger Herold keine Kompromisse. Mit einem Pilotprojekt setzt der Vordenker seinen Traum von autarker Energieerzeugung um. „Zu diesem Gebäude führt kein einziges öffentliches Kabel“, sagt er stolz und erklärt seine geniale Technologie: Solarpaneele auf dem Dach erzeugen Elektroenergie aus Sonnenlicht. Der erzeugte Strom wird in einer Blei-Gel-Batterie mit einer Ladekapazität von 35 kW gespeichert – das ist das Kraftwerk, was das Haus mit Strom versorgt. Produziert die Sonne so viel Energie, dass die Batterie voll und der Strombedarf des Gebäudes gedeckt ist, wird die überschüssige Energie in einen Elektrolyseur geleitet, der mithilfe von Strom herkömmliches Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff aufspaltet. Der Sauerstoff bleibt – sozusagen als Frischluftkur – im Haus, der Wasserstoff wird komprimiert und außerhalb des Gebäudes in handelsüblichen Gasflaschen langfristig gespeichert. Die bei der Elektrolyse entstehende Wärme wird per Rückgewinnung im Warmwasserspeicher abgelegt.
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Wenn sich nun im Laufe sonnenarmer Tage der Kurzzeitspeicher – also die Batterie – langsam leert, schaltet sich ab einem bestimmten Ladestand eine Brennstoffzelle zu – sofern nicht die verknüpfte Wetter-App Entwarnung gibt, weil morgen wieder die Sonne scheint. Die Brennstoffzelle erfüllt die Umkehrfunktion des Elektrolyseurs: Aus Wasserstoff und Sauerstoff erzeugt sie Wasser, Strom und Wärme. Der Strom fließt ins Haus, die Wärme wird, wie schon bei der Elektrolyse, permanent geerntet und in Warmwasserspeichern gelagert, aus denen rund 50 Prozent der Heizenergie für das Gebäude gewonnen werden.
Der Rest der Heizenergie kommt aus einem Biomeiler. In einer Ecke des Gartens steht eine riesige „Torte“ – sechs Meter im Durchmesser und drei Meter hoch – aus Gartenabfällen. Vornehmlich besteht der Meiler aus Holzhackschnitzeln, die überall im Dorf anfallen und hier gesammelt werden.
Der Traum vom energieautarken Leben
Im Inneren des Biomeilers entsteht im Prozess der Verrottung eine Temperatur zwischen 50 und 70 Grad Celsius. Diese Wärme wird über herkömmliche Fußbodenheizungsschläuche, die auf drei Ebenen 300 Meter lang spiralförmig im Meiler verlegt sind, herausgeholt. Über einen Wärmetauscher wird das warme Wasser in eine unterirdische Zisterne geleitet, aus der sich die Fußbodenheizung des Hauses speist. Ein genialer Kreislauf, der ausschließlich mit natürlichen Energiequellen und komplett autark funktioniert. Erleben wir hier gerade einen Blick in die Zukunft, wie unsere Welt nicht nur grüner, sondern auch nachhaltiger und wirtschaftlich unabhängiger sein könnte? Land.Leben 4.0 – so sieht es in Ursprung aus. Die bei simul+ preisgekrönte Idee wurde gemeinsam mit Studenten und der Dorfgemeinschaft in die Tat umgesetzt. Terra.Hub – so der Name des zukunftsweisenden Gebäudes – und der Natur -, Heil- und Therapiegarten Terra. Garden bilden zusammen Terra.Ursprung, eine Oase der Kreativität und des technologischen Fortschritts. In den lichtdurchstrahlten Hallen finden Yogakurse statt, in dem nach den Erkenntnissen der Permakultur angelegten Garten wachsen Kräuter für Tinkturen und Essenzen.
Im Sommer spielte ein bekannter Künstler ein Konzert auf dem Hof, Roger Herold verteilte eigenhändig Flyer im Dorf und freute sich riesig, dass über 160 Gäste seiner Einladung gefolgt sind. Sein Wissen rund um Wasserstofftechnik und Konstruktion teilt der Baupionier gern mit Studenten und Azubis. In Thinktanks tüfteln Laien und Experten an Stellschrauben, um das Verfahren weiter zu verbessern und mit Firmen die Realisierbarkeit im Baualltag voranzutreiben.
Wir wollen die Gemeinschaft im Ort und in der Region stärken, Pilotprojekte beflügeln, Start-ups auf den Weg bringen, unsere Lebenserfahrung teilen mit Menschen, die ihren Weg suchen …
…, beschreibt Roger Herold das Konzept. „Von der schicken Eigentumswohnung zum autarken Bauernhof führte uns ein Weg, der viel mit dem offenen Blick, einem freien Kopf und Vertrauen auf den Bauch zu tun hat. Jetzt sind wir angekommen. In diesem kleinen Ort mit dem schönen Namen Ursprung, der uns tatsächlich zurück an den Ursprung führt.
Eine Oase der Ruhe, die Freiräume schafft. Freiräume für Experimente, Freiräume für Gedanken und Visionen, die schon heute einen Blick aufs Landleben der Zukunft erlauben.“
Text: Sylva Michélé Sternkopf
Fotos: Isabell Fischer