Vom Küken zur Leitwölfin

22.01.2024

Über eine junge Wintersportlerin, für die 120 km/h ein Rausch voller Adrenalin ist.

Zunächst ist es ein entferntes Rauschen, mit jedem Herzschlag wird es lauter. Erinnert an einen Zug, der über die Schienen rattert, ein kurzer Luftzug und – wusch – schon donnert der Schlitten vorbei. So rasant, dass es unmöglich wäre, das Gesicht unter dem Helm der Rodlerin zu erkennen. Mit mehr als 120 Kilometern pro Stunde rast Julia Taubitz die Eisbahn hinunter – Geschwindigkeiten, bei denen jeder noch so kleine Fehler schmerzhafte Konsequenzen fordert.

Doch genau das ist es, warum die Erzgebirgerin sich ausgerechnet fürs Rennrodeln entschieden hat:

Ich war schon immer ein kleiner Adrenalien-Junkie.

„Für mich liegt der Reiz genau darin, so wenig Schutz zu haben. Es ist das Risiko, immer die Schnellste sein zu wollen und gleichzeitig aber zu wissen, wenn etwas schiefgeht, dass es dann wirklich wehtut.” Als kleines Mädchen heftete sie sich an die Fersen ihres älteren Bruders, der sie mit nach Oberwiesenthal zum Rennrodeln nahm, wo ein Feuer in ihr entfacht werden sollte. „Torsten Wustlich, Sylke Otto, Anke Wischnewski – da waren halt immer Leute, die man sich zum Vorbild nehmen konnte und die in Oberwiesenthal richtig gute Nachwuchsarbeit gemacht haben.” Gerade einmal sieben Jahre war Julia alt, als sie zum ersten Mal mit einem Rennrodel die Bahn hinuntersauste – vor etwas mehr als 20 Jahren, am 01.11.2003, erzählt sie, nicht, ohne selbst sichtlich von diesem Jubiläum gerührt zu sein.

Seitdem ist viel passiert: 23 Weltcup-Einzelsiege und 5 WM-Goldmedaillen stehen inzwischen auf Julias imaginärem Punktekonto. Wenn sie von der anstehenden WM 2024 in Altenberg erzählt, tritt ein Leuchten in ihre Augen: „Ich kann es kaum erwarten! Endlich wieder im Reisemodus zu sein, dieses kleine Nervositätsgefühl vor den Läufen zu spüren und vor allem eine richtige Heim-WM zu haben. Das ist schon ein Glücksgriff, wenn das im Laufe der Sportkarriere passiert! Ich meine, ich kenne diese Bahn von ganz unten. Von Kurve 14 habe ich hier meine ersten Fahrten gemacht, da war ich sieben Jahre alt.“

2x Gold, 1x Silber – Julia Taubitz bei der Rodel WM 2024 in Altenberg

Weltmeisterin im Sprint am 26.01.2024

Vizeweltmeisterin im Einsitzer am 28.01.2024

Weltmeisterin mit der Team-Staffel am 28.01.2024

Natürlich kam der Erfolg nicht von allein. Immer wieder taucht die Formulierung der geopferten Jugend auf – ein Preis, den vermutlich alle erfolgreichen Sportlerinnen und Sportler für ihre Karrieren zahlen. Mit einem Schmunzeln verrät sie, dass sie eigentlich sogar enttäuscht war, als sie mit 17 Jahren von der Bundeswehr ins Sportförderprogramm aufgenommen wurde und damit der weiteren Rennrodel-Karriere nichts mehr im Wege stand: „Ich hatte damals einfach ganz andere Interessen und dachte nur ‚Oh, Scheiße, jetzt musst du das weitermachen.‘ “ Zweimal täglich ist sie gerade mit ihrem Team auf der Bahn, abends komplettieren Athletik- und Krafttraining das Programm, und selbst während der Mittagspausen wird noch gemeinsam mit dem Mechaniker an den Schlitten geschraubt. „Aktuell ist alles noch ein bisschen grobmotorisch, aber wenn es dann Richtung Weltcup geht, sind wir Perfektionisten“, erklärt sie. „Das ist dann wirklich Krümelkackerei. Es ist eben ein Tausendstel-Sport. 2023 bin ich um ein Tausendstel Vizeweltmeisterin geworden, da beißt’e dir halt schon in den Arsch. Schon eine Schraube, die nicht richtig abgeklebt ist, kann entscheidend sein.”


Julia Taubitz im hERZschlag-Podcast




Heute ist Julia natürlich froh, dass alles kam, wie es gekommen ist. Am liebsten denkt sie an die WM in Königssee 2021 zurück, als sie völlig unerwartet die Goldmedaille gewann. „Eigentlich war das ein Höllentag. Den Tag zuvor war ich gestürzt, hatte am Morgen bei der Qualifikation extreme Kopfschmerzen und habe mich gerade so als Vorletzte qualifiziert. Und es ist ja auch alles an einem Tag: Da mussten wir ganz schnell unsere Schlitten machen und wieder an die Bahn fahren. Und dann hab‘ ich da doch echt so einen geilen Lauf runtergefahren! Als Vorletzte in der Quali, war ich ja schon die Zweite im Ziel (Anm. der Red.: Gestartet wird in entgegengesetzter Reihenfolge, die Schnellste immer zuletzt). Da kam mein Trainer zu mir und sagte: ,Jule, das war der Sieg.‘ Ich hab das natürlich nicht geglaubt. Aber während die 13 anderen Rodlerinnen kamen, konnte ich sehen, wie ich immer weiter nach vorn gerutscht bin. Wenn ich wie sonst meistens am Ende starte, habe ich ja gar keine Zeit, das emotional wahrzunehmen. Ich habe sogar angefangen, zu weinen, weil ich das mal so richtig genießen konnte.”

Mit zunehmenden Erfolgen steigt jedoch auch der Leistungsdruck – so möchte man zumindest meinen. Immerhin sind alle Augen auf sie gerichtet, seit in der Saison 2019/2020 Tatjana Hüfner, Natalie Geisenberger und Dajana Eitberger ihre Karrieren (vorerst) beendeten und sie – jetzt nicht mehr Jüngste, sondern auf einmal Älteste des WM-Teams – in Sotschi ihr erstes WM-Gold holte. „Vom Küken zur Leitwölfin“, raunte es damals, aber Julia Taubitz scheint mit ihrer gewissenhaft bewahrten Leichtigkeit eine ganz eigene Superkraft entwickelt zu haben, die den Druck gar nicht erst zu ihr durchdringen lässt. „Vor allem im Spitzenbereich merkt man sofort, wenn sie verloren geht.“

Jeder, der so weit gekommen ist, hat ja das Talent, aber am Tag X entscheidet, wer auch die nötige Leichtigkeit hat.

„Ich muss immer an Tobias Wendl denken, wie er mir am Abend vor seinem Olympia-Rennen in Peking oberkörperfrei, nur mit einer Thermoweste an und einem Bier in der Hand entgegenkam. Da habe ich ihn angeschaut und dachte mir: ,Du wirst morgen Olympiasieger.‘ Und dann hat er es durchgezogen.“

Nebenher helfen aber auch das Motorradfahren und die Besuche bei der Familie in Annaberg-Buchholz , um den Kopf freizupusten. „Meine Eltern stöhnen schon immer, wenn ich wieder die Pöhlberg -Runde mit ihnen gehen will, aber das ist halt mein Hausberg.” Wie sehr ihr Herz wirklich an ihrer Heimat hängt, bestätigt ein Blick auf die eingestickte Stadt-Silhouette auf ihrem Schlitten. „Jedes Mal, wenn ich nach Annaberg reinfahre und die Kirche abends beleuchtet ist, da denk ich: ‚Hach, mein Annaberg.‘ Entsprechend fest sind die Daumen der Annaberg-Buchholzer und natürlich auch all ihrer anderen Fans für die kommende Saison gedrückt und dafür, dass Julia Taubitz sich in den kommenden Jahren ihren großen Wunsch erfüllen kann: Weltmeisterin, Gesamt-Weltcup-Siegerin und Olympiasiegerin möchte sie werden. Nur das dazu geflüsterte „Ich bin aber zufrieden, egal, wie es ausgeht”, kann man einer Leitwölfin, wie Julia Taubitz eine ist, schwer abnehmen.

Text & Fotos: Magda Lehnert


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