20.02.2024
Ein Gespräch über Abschied und Rückkehr auf Raten
Nichts wie weg! Kaum hat man das Abitur in der Tasche, geht es hinaus in die große, weite Welt. Raus aus der Überschaubarkeit des Dorfes, der Behäbigkeit der Kleinstadt. Rein in die Anonymität, rein ins Großstadtgetümmel. Dennoch: Trotz emotionaler Entfernung und trennender Kilometer wird man sie nicht los, die eigene Herkunft. Wie fühlt sie sich an, die innere Diskussion um Wurzeln? Was kommt dabei heraus? Und was schätzt man mehr als gedacht?
Richard Glöckner steht exemplarisch für ein Wanderungsmuster vieler Abiturientinnen und Abiturienten. Nur, dass er im Vergleich zu Gleichaltrigen etwas früher dran war. Als Elftklässler verlässt er das heimische Nest. Glöckner hat ein Ziel: Gesang studieren. Deshalb geht er von Seiffen nach Zwickau ins Internat des Clara-Wieck-Gymnasiums. Ein Jahr später zieht es ihn nach Dresden an das Sächsische Landesgymnasium für Musik. Nach dem Abitur ruft das Mozarteum in Salzburg. Er lässt sich als Tenor ausbilden, feinschleifen und sammelt Erfahrungen in Oper, Operette, Oratorium, Chanson und Musical. Und: Preise gewinnt er auch noch. 2014 sein erster Bundespreis bei „Jugend musiziert“, 2018 den Lys Symonette Award bei der Lotte Lenya Competition der Kurt Weill Foundation for Music in New York. Seit der Spielzeit 2021/ 2022 ist er festes Mitglied des Ensembles am Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg-Buchholz .
Es war so ein Abschied auf Raten.
Sie waren gerade einmal 16 Jahre alt, als Sie 2011 auszogen. Was hat das mit Ihrer Familie gemacht?
Ich hätte von mir selber nicht gedacht, dass ich, bevor ich 18 bin, aus dem Haus gehe. Das stand einfach nicht zur Debatte. Im Rückblick war es einfach da und wie immer: Es kommen die Dinge, ich laufe darauf zu und wenn sie vor mir sind, dann überlege ich mir, wie ich es mache. Meistens läuft es auch ganz gut.
Generell war das für mich schon ein großes Ding. Meiner Familie ging das ähnlich, glaube ich. Was ganz gut war: Es war so ein Abschied auf Raten. Zwickau war nicht so weit weg. Da kam ich jedes Wochenende nach Hause. In Dresden sahen wir uns auch noch häufig, in Salzburg nur noch aller zwei Monate. Das Abschiednehmen hat sich langsam aufgebaut.
Hatten Sie Heimweh?
Ja und nein. Es war eine sehr bewusste Entscheidung, von Dresden nach Salzburg zu ziehen, um wirklich einen Schritt rauszumachen und nicht mehr im Einzugsgebiet der Familie und von dem, was man halt kennt, zu sein. Das hat mir persönlich sehr, sehr gutgetan.
Wenn man Heimweh mit der Sehnsucht nach Orten verbindet … Ich hatte keines. Aber die Traditionen, die ich von hier und meiner Familie mitbekommen habe, die beschäftigten mich sehr. Zum Beispiel Weihnachten : Ich konnte mir nie vorstellen, da nicht zu Hause zu sein. Das wird kommen in diesem Beruf, mit Sicherheit. Das sind so Momente, wo ich denke: „Ja, ich fühle mich sehr verbunden.“ Und, ich schmücke auch immer: Holzfiguren und solche Sachen. Das kann ich nicht ablegen, gerade als Seiffener. Noch etwas: Stollen selbst backen – das haben wir zu Hause nicht gemacht. In Salzburg habe ich dann einfach damit angefangen. Jetzt backe ich jedes Jahr Christstollen.
So hat das begonnen, das Auseinandersetzen, das Reflektieren über das, was das Erzgebirge ausmacht.
Es heißt, egal, wo man hinzieht, etwas Neues anfängt, man nimmt sich immer mit. Was haben Sie über sich selbst gelernt?
Während der Pandemie war die Uni zu. Ich bin zurück nach Seiffen gegangen; war erstmals nach sehr langer Zeit wieder richtig zu Hause und habe für Wochen im Erzgebirge gewohnt. Ich hatte wirklich Sorge, dass mich das einengt, dass ich hier nicht klarkomme. Denn früher hatte ich das Gefühl: Ich muss weg, ich muss was anderes sehen.
Nun, es war wie immer: Auch diese „Rückkehr“ habe ich auf mich zukommen lassen und sie hat gut funktioniert. Abends den Sonnenuntergang vom Berg aus anzusehen, das war schon fein. Dann bin ich durch die Wälder gestiefelt, habe mir dabei Anton-Günther-Lieder angehört. So hat das begonnen, das Auseinandersetzen, das Reflektieren über das, was das Erzgebirge ausmacht. Es anders zu sehen, wahrzunehmen und wertzuschätzen.
Ein Resultat davon ist meine erste eigene CD „Heimweh nach Weihnachten“, die im November 2023 erschienen ist. Die Lieder darauf erzählen von vergangenen Zeiten, Traditionen und Kindheitserinnerungen, der Suche nach Heimat, Erfahrungen im Exil und dem Verlassensein in der Heiligen Nacht.
Ich habe mehr verstanden, warum ich so fühle, wie ich fühle, z. B., was die Traditionen betrifft.
Klingt nach einem langen Prozess. Gibt es eine persönliche Erkenntnis daraus?
Ich habe mehr verstanden, warum ich so fühle, wie ich fühle, z. B., was die Traditionen betrifft. Warum die Erzgebirgerinnen und Erzgebirger so ticken, wie sie ticken. Mir wurde klar, wie Strukturen gewachsen sind, welche Rolle historische Ereignisse spielten. Ein Ergebnis daraus ist, dass ich hin und wieder ins Bergwerk gehe. Jedes Mal, wenn ich unter Tage bin, denke ich: „Ja, das ist so klar.“ Vor meinem inneren Auge sehe ich sie, die Sehnsucht nach dem Licht und die wirklich arme Bevölkerung, die hier angefangen hat, etwas zu schaffen. Das alles spürt man immer noch so sehr in der Region.
Ihr erstes festes Engagement führte Sie zurück ins Erzgebirge. Was hat das Eduard-von-Winterstein-Theater, was andere Häuser nicht haben?
(Lacht.) Generell ist es der Hammer, was Sachsen für eine Theaterdichte hat: Chemnitz, Zwickau, Freiberg … Dass eine Stadt wie Annaberg-Buchholz so ein Haus hat, ist fast unglaublich. Mir bietet sich hier Raum, um mich auszuprobieren, weil wir ein sehr kleines Ensemble sind. Ich kann hier Rollen singen, die große Partien sind, quasi auf der Bühne trainieren und erhalte Aufgaben, die ich an einem größeren Haus nicht bekäme. Ich bin der einzige Tenor. Ich muss halt alles singen, was als Tenorrolle für mich passt und irgendwie anfällt (und auch was nicht passt). Dadurch haben wir ein sehr, sehr hohes Pensum. Und durch dieses Machen lernt man einfach richtig, richtig viel. Unter Sängerinnen und Sängern gibt es den Spruch: „Ja, in der Provinz lernt man schwimmen.“
Sie sind jung und welterfahren. Wie kommen Sie darauf, sich mit Anton Günther aus Gottesgab auseinanderzusetzen?
Ich bin mit ihm irgendwie groß geworden, sehe heute, wie seine Musik genutzt und benutzt wird. Erstens setzt er in seinen Liedern Themen: die Schönheit der Landschaft , ein gemeinsames Feiern oder halt ein Weihnachtsfest. Dann gibt es immer die Ebene da drunter, wo noch mal reflektiert wird: „Oh, das könnte aber vorbei sein oder denk‘ mal dran, wer nicht mehr mit dabei ist.“ Dieser melancholische Unterton ist auch ganz oft in der Kunst zu finden, die ich an der Uni gemacht habe. In einem Brahms- oder Schubertkunstlied ist es genau das Gleiche. Es ist dieses „Ach ja, aber …“
Zweitens seine Biografie. Die ist super spannend, aber keineswegs einfach. Sie liefert keine simplen Antworten. Entsprechend war meine Reibung an der Person Anton Günther. Weil ich darin Momente finde, die unglaublich sind, die mir aus der Seele sprechen. Doch dann gab es die Momente „Nee! Das kann ich nicht hören.“ Seine Biografie zeigt, dass Anton Günther ein einfacher Mensch ist, der nicht dafür da ist, als Geschichtsheld herzuhalten. Was seine Person echt überschattet, ist der derzeitige Umgang damit. Sprich, was andere über ihn sagen, denken und wie sie ihn für ideologische Zwecke nutzen.
Mei Harz (dt. mein Herz) braucht Lieder: Seit 2022 laufen die Liederabende zu Anton Günther wie geschnitten Brot. Wer hatte die Idee mit der Klappmaulpuppe?
Unsere Schauspielchefin Jasmin Sarah Zamani. In der Auseinandersetzung mit Anton Günther gab es den einen Punkt, wo das Ganze auf der Kippe stand, weil wir ihm nicht nahegekommen sind. Jasmin hat schon in Wien viel Theater mit Klappmaulpuppen gemacht. Sie hatte Erfahrung; ich gehörigen Respekt vor dieser Kunstform. Mit der Puppe ist es möglich, mich und meine Gedanken zu Anton Günther zu spiegeln. Sie zeigt dem Publikum, dass ich mit mir selber rede. Ich führe ihn. Das ist allen von Anfang des Abends an klar. Und dadurch können wir miteinander in den Dialog treten, auch wenn man nach Sesamstraßenart relativ scharf im Ton miteinander umgeht. Kurz: Ich kann mit dieser Puppe Dinge machen, die ich als Darsteller nie machen könnte. Momente, die total albern oder ausdrucksstark sind. Da werden kleine Augenblicke sehr, sehr groß. Emotional ist es ein Gewinn, dass es diese Puppe gibt.
Sagt einer, in dessen Brust zwei Herzen schlagen: Ein erzgebirgisches und eines, das draußen in der Welt Inspiration sucht, um das eigene Ich, die Wurzeln und das Liedgut von Anton Günther zu spiegeln und einzuordnen.
PS: Man sagt, in Bewegung lässt sich besser miteinander sprechen. Das dem so ist, zeigt dieses Interview. Auch die Fotos entstanden während des gemeinsamen Stadtrundgangs in Annaberg-Buchholz.
Text: Beatrix Junghans-Gläser
Fotos: Erik Wagler, Dirk Rückschloss