Die Natur im Fokus

11.06.2024

Warum ein leiser Flügelschlag in einem Krankenpfleger ein Erdbeben der Gefühle auslöst.

Einatmen. Ausatmen. Ganz langsam gleitet der Blick erst über den Fels und dann hinauf in die Bäume. Mit jeder Minute, die vergeht, wird das Rascheln der Blätter lauter und … Moment! War das nicht eben ein Flügelschlag? Vorsichtig hebt Matthias Göthel die Kamera, bereit für den Moment, wenn der Uhu seinen Kopf aus seinem Versteck streckt.

Es ist früher Abend über Dorfchemnitz, die Sonne fängt bereits an, golden zu funkeln – die beste Zeit, um nach einem neuen Motiv Ausschau zu halten. Stunde um Stunde sitzt Matthias Göthel in aller Stille irgendwo in der Natur und wartet. Auf den Uhu, junge Füchse, Rohrammer, ein Reh … „Das ist für mich Entspannung. Und gerade zu einem stressigen Arbeitstag ist es ein schöner Ausgleich, einfach abends irgendwo hinzugehen und in der Natur zu sitzen, selbst wenn ich dann ohne Bild nach Hause komme.“

Wenn die Nachtschicht zum Privileg wird

Matthias Göthel ist Fachkrankenpfleger für Notfallmedizin am Helios Klinikum Aue – ein harter Job, nicht zuletzt wegen des Drei-Schicht-Systems. Auf der Suche nach einem Ausgleich entdeckt er irgendwann die Fotografie für sich und kauft seine erste Spiegelreflexkamera. Mit YouTube Tutorials probiert er sich zunächst in Porträt- und Landschaftsfotografie, wächst mit neuer, besserer Technik und fotografiert schließlich die erste Hochzeit. Durch seinen Freundeskreis lernt er zu dieser Zeit zufällig mehrere Wildtierfotografen kennen, und „da bin ich dann mal mitgegangen“. Die Begeisterung ist so groß, dass die Hochzeits- und Neugeborenenfotografie nunmehr vor allem dazu dienen, die teuren Objektive für die Wildtierfotografie zu finanzieren. „Die Naturfotografie mach' ich halt wirklich nur für mich, zum Runterkommen.“ Und auf einmal wird das Drei-Schicht- System sogar zum Privileg. Während die meisten Leute früh auf dem Weg zur Arbeit sind, kann er sich nach der Nachtschicht zur Morgendämmerung mit der Kamera auf die Lauer legen.

Tatsächlich gleicht es fast einer Meditation, die Landschaft mit den Augen abzusuchen nach einem Zeichen für die so sehr erhoffte Tierbegegnung. Mit jeder Minute fangen die Sinne an, mehr und mehr wahrzunehmen. Die Geräusche werden lauter, Bewegungen sichtbarer und selbst die leichte Brise wird zu einem Sturm auf der Haut, wenn es darum geht, sich in der richtigen Windrichtung zum Tier zu platzieren. Es ist, als würde man die Natur zum ersten Mal wirklich sehen – mit ihren tausend kleinen Geschichten, die sie auf jedem Quadratmeter zu erzählen hat. „Ich bin auch schon oft ohne Bild nach Hause gekommen. Aber das ist in Ordnung, weil es eben keinen Druck gibt, wie zum Beispiel bei einer Hochzeit. Da muss der Fokus sitzen, die wichtigen Momente müssen alle eingefangen werden und das hat man hier halt nicht. Deshalb ist es Natur. Und es ist nicht so, dass ich den ganzen Abend fluche, wenn ich leer ausgehe und mich frage, warum ich das überhaupt gemacht habe.“

Ich bin noch nie in die Natur gegangen und dacht’ mir hinterher, na Mensch, das war aber heute für die Katz.

Man nehme eine Prise Exzentrik

Eine kleine Prise Exzentrik braucht die Wildtierfotografie allerdings schon. Zweihundert, dreihundert Kilometer fährt Matthias Göthel manchmal, nur um dem Hinweis auf einen seltenen Vogel nachzugehen. Zuletzt fährt er mit einem befreundeten Fotografen sogar bis nach Österreich, um dort einen der hierzulande fast ausgestorbenen Feldhamster zu fotografieren – obwohl er um die kürzlich gestiegene Fuchspopulation vor Ort weiß. Fraglich also, ob es die Feldhamster überhaupt noch gibt. Doch er hat Glück: Schon kurz nach ihrer Ankunft zeigt sich das erste Tier! „Das war ein Traum, weil man weiß, wie selten der ist. Und dann sind sie ja auch echt extrem niedlich, viel größer, als man sie sich vorstellt, so groß wie ein Meerschweinchen“, schwärmt er.

Auch heute hält seine Glückssträhne an: Mitten im Satz unterbricht er sich – der Uhu hat sein Versteck verlassen. Langsam hebt Matthias Göthel die schwere Kamera, fokussiert, klack! Der Shot sitzt. Man könnte die beiden fast als gute Bekannte bezeichnen. Seit Jahren schon lebt der Uhu an derselben Stelle unweit von Dorfchemnitz und zieht dort jedes Jahr seine Jungen groß – und jedes Jahr ist Matthias Göthel zur Stelle, um zu schauen, wie es ihm geht und ein Foto als Andenken mitzunehmen. Als könne er die Frage schon erahnen, fügt er hinzu: „Nein, langweilig wird mir nicht. Obwohl ich jedes Jahr aufs Neue denke, dass ich gefühlt jeden Spot hier schon abgegrast habe, gibt es immer wieder ein neues Highlight. Da findet sich auf einmal doch wieder eine bewohnte Schwarzspechthöhle, nächstes Jahr ist es vielleicht der Grünspecht oder ich finde einen Holzhaufen, in dem ein Steinmarder wohnt. Das Erzgebirge ist einfach ideal für die Naturfotografie, hier gibt es so viel.“

Ich bin schon in die Gegend verliebt.

Obwohl seine Frau ihn vor einigen Jahren während ihres Studiums bat, nach Kassel zu ziehen, konnte ihr der Zwönitzer den Wunsch nicht erfüllen. „Ich hätte das schon gemacht, aber ich hätte mich nicht wohlgefühlt. Ich bin im Erzgebirge geboren und wohne schon immer in Zwönitz , mich kriegt man hier nicht weg. Gerade in der Weihnachtszeit bin ich nirgendwo lieber als hier. Ich bin schon in die Gegend verliebt.“ Glücklicherweise kommt auch seine Frau ursprünglich aus dem Erzgebirge, so war die Option, gemeinsam in Zwönitz zu wohnen, keine abwegige.

Und vielleicht – so zumindest sein Wunsch – kann Matthias Göthel mit seinen Bildern die Leute sogar ein wenig dazu inspirieren, wieder mehr und mit of feneren Augen in die Natur zu gehen – auch dann, wenn der Arbeitstag vielleicht anstrengend war. „Weil die Natur etwas ganz Wunderbares ist, und es nichts gibt, was einen ablenkt. Das Rausgehen ist etwas, das ich noch nie bereut habe, ich bin noch nie in die Natur gegangen und dacht’ mir hinterher, na Mensch, das war aber heute für die Katz.“

Text: Magda Lehnert

Fotos: Magda Lehnert & Matthias Göthel


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